Original Story: Malenka 2/2 (in German)
Dec. 13th, 2008 08:34 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Title: Malenka (2/2)
Author: the Lyorn
Language: German
Words: ca. 10,000
Setting: original
Rating: 12
Genre: Adventure, Drama, Horror
Summary: "Merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
Parts: [1/2], [2/2]
Anmerkungen: Diese Geschichte ist ein Teil von einem längeren Zyklus. Wahrscheinlich ist das nicht zu übersehen, ich hoffe aber, daß sie auch für sich alleine stehen kann. Eine ältere Version dieser Geschichte ist (im Moment noch) auf meiner Webseite.
Danke an Ceridwen, Snow,
mad_freddy, und alle, die sonst noch ihren Senf und ihre Rechtschreibkorrekturen dazugegeben haben. Ein extradickes Danke an
flederkatz, ohne die diese Geschichte nie das Tageslicht gesehen hätte.
Kritik und Kommentare sind willkommen.

Malenka by Ingeborg Denner is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-Share Alike 3.0 Germany License.
MALENKA (2/2)
Eine Stimme rief mich, eine fremde, angenehme Stimme. Ich war noch nicht einmal halb wieder da und merkte schon, daß es mir ausgesprochen schlecht ging. Ich war in kalten Schweiß gebadet und meine Zähne, nein, alles an mir klapperte, mir war übel, und was mir alles wehtat wollte ich gar nicht wissen. Immerhin hieß das, ich lebte. Ich wußte noch nicht, was ich davon hielt.
"Lebst du?" fragte die Stimme.
Mit Mühe brachte ich die Worte hervor. "Ja. Leider."
"Es tut mir leid", sagte die Stimme. Malenka, fiel mir der Name ein. Sie klang anders. "Jetzt komm, alte Hexe, wir müssen hier verschwinden."
So groggy konnte ich gar nicht sein, daß mir ein Vorschlag, sich zu verdrücken, nicht eingeleuchtet hätte. Ich wollte die Augen öffnen und merkte, daß ich sie schon offen hatte. Kein gutes Zeichen.
"Ganz meiner Meinung", sagte ich, und war überrascht, daß meine Zunge nur ein bißchen stolperte. "Gib mir eine Minute, damit ich mich wieder zusammensetzen kann." Wenn ich nicht sehr viel Glück hatte, würde das mehr als eine Minute dauern, aber irgendwo muß man anfangen.
"Ja. Es tut mir wirklich leid. Ich wußte nicht -- ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde."
Willkommen im Club. Ihr Stimme schien von weither zu kommen. "Malenka?" sagte ich.
"Ja?"
"Verstehst du was von erster Hilfe?"
"Eh -- ein kleines bißchen... wieso?"
"Behandlung für Schock und Blutverlust?"
"Oh."
Ich erwartete ein Ziehen und Schieben, statt dessen spürte ich, wie ich vorsichtig hochgenommen und anders wieder hingelegt wurde, und durch mein wirres Gehirn zog sich das Bild, daß die anderen Toten jetzt ebenfalls durch den Raum wanderten und Malenka zur Hand gingen.
Nach ein paar Sekunden bemerkte ich, daß ich die Decke des Raumes sah. Ich drehte den Kopf und sah Malenka. Sie erschien mir von einer dunklen, glänzenden Aura umgeben wie von schwarzem Samt, und sah fast lebendig aus -- lebendiger als ich, vermutlich. Ich schätzte meinen Zustand ab. Katastrophal. Ich würde diese Nacht nirgendwo hingehen. Und morgen auch nicht.
"Ich kann dich tragen", sagte Malenka. "Aber da oben sind Petrok und, ich glaube, Jesan, mit Gewehren. Vielleicht haben sie etwas gehört. Ich kümmere mich um sie." Sie trat unter das Loch in der Decke, ohne die Schädel zu beachten, die sie zweifelnd anstarrten, sprang hinauf wie eine Katze und war verschwunden.
Meinen rechten Arm zu bewegen war unmöglich, und den Kopf weit genug zu heben, um etwas zu sehen schien keine gute Idee. Ich tastete mit der linken Hand und spürte, wie klebriges Blut durch meine Finger sickerte. Nicht gut, gar nicht gut. Es dürfte nicht mehr bluten. Ich versuchte, die Hand gegen die Wunde zu pressen, aber der Winkel war unmöglich, und ich war zu schwach. Die Panik überwältigte mich. Ich sah mich auf dem Boden dieser Gruft liegen und verbluten. Ich wollte schreien, wollte nach Malenka rufen, nach Hilfe, brachte aber nur ein schwaches Fiepen hervor.
Jemand anders schrie, ein Mann, in Todesangst. Der Schrei brach abrupt ab und drang durch meine Panik. Ich hatte etwas Biofeedback gelernt, wenn auch in friedlichen Meditationsräumen -- ich konnte zumindest meinen Kreislauf ein wenig stabilisieren und meinen Verstand wieder zusammensammeln.
Es konnte nicht stark bluten, und solange ich den Kopf unten hatte und bei Bewußtsein blieb, war es nicht gefährlich. Malenka würde wiederkommen. Aber Malenka war eine Verbündete, keine Freundin. Sie war gefährlich, und ich wollte ihr gegenüber nicht noch mehr Schwäche zeigen, wenn ich es vermeiden konnte.
Alles wäre so einfach, dachte ich frustriert, wenn das Netz noch funktionieren würde. Es waren Leute mit Heilfähigkeiten im Netz gewesen, und ihre Talente, wie alle anderen auch, hatten sich in das Gewebe geprägt, unterstützt von der Netzenergie von zehntausend oder mehr Netzleuten, bis sich jeder, der genug Netzsinn hatte, um die Fähigkeit zu finden und genug Energie aus dem Netz ziehen konnte, um sie einzusetzen, diese kleine Verletzung in dreißig Sekunden hätte heilen können. Mit meiner Begabung, Energie zu halten und zu handhaben, hätte ich es mit der Fertigkeit alleine geschafft. Ich stellte mir vor, wie die Heilfähigkeit sich anfühlte, wenn man sie im Netz fand, kühl und grün wie Sommerblätter, weich wie Quellwasser, wie sie einen die Dinge so sehen ließ, wie sie sein sollten, nicht wie sie waren... Sehnen und Knorpel, Adern und Muskeln an der Schulter, im Ellenbogen, ein perfektes Zusammenspiel, alles am richtigen Platz und in der richtigen Form, die Adern im Fettgewebe des Unterarms, nahe unter der Haut, glatt und rund und geschlossen, die Hautschichten darüber ordentlich angeordnet, jede da, wo sie hingehörte... und jetzt die Energie ziehen, das Bild mit Leben füllen, mit dem Glauben, dem Wissen, daß alles genau so ist, wie es sein soll, und die Energie hineinfließen lassen, kühl, klar, grün, und ohne Fehler...
Es war, als wenn etwas an seinen Platz rutschte und einrastete. Ich tastete erneut meinen rechten Arm ab. Die Schwellung am Ellenbogen war deutlich reduziert. Die Haut auf der Innenseite des Unterarms, unter dem halbgeronnenen Blut, war glatt und heil.
Ein Scharren oben, und Malenka sprang durch das Loch in der Decke hinunter als seien die drei Meter gar nichts. Das Blut an ihren Lippen war schwarz im fahlen Licht.
"Wisch dir den Mund ab", sagte ich. "Was hast du mit ihnen gemacht?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich wußte nicht, das Leben so zerbrechlich ist. Jesan habe ich den Hals gebrochen. Petrok... ich hatte nicht vor, ihn schnell zu töten, aber..." Sie sah verwirrt aus. "Ich habe sie ins Meer geworfen. Das ist mehr Respekt, als sie für uns hatten."
Irgend etwas war mit dem Meer gewesen, und mit Strömungen, aber es war nichts, was nicht Zeit gehabt hätte. "Wie war das mit Abhauen?" fragte ich.
"Ja. Kannst du gehen?"
Ich nahm die Beine von dem Steinblock herunter und rollte mich auf die rechte Seite. Langsam, Tanien, langsam. Als mir nur noch mäßig schwindlig war, zog ich die Beine an und stemmte mich mit dem linken Arm hoch, drehte mich, und schaffte es, meine Knie unter mich zu bringen. Gleichmäßig atmen. Mir war übel. Stehen war unmöglich. Gehen war Phantasterei. Malenka beobachtete meine Bemühungen mit offenkundiger Faszination. Mit den Fingern fand ich Halt in Mauerritzen, schaffte es in eine kniende Position. Einen Fuß auf den Boden, und jetzt aufstehen. Ich fand die Kraft nicht. Ich hatte drei Tage? vier? an der Mauer gehockt, meine Beine hatten nicht mehr Kraft als junges Gras. Malenka sah mir zu wie ein gelangweiltes Kind dem verzweifelten Strampeln eines auf den Rücken gefallenen Käfers. Sie hatte mich nicht getötet, aber ich glaubte nicht mehr, daß sie mir helfen würde. Ich zog mich mit beiden Händen an der Wand hoch. Mein Magen drehte sich um. Mein Kopf wurde leicht. Ich spuckte Galle, ich hatte nicht einmal einen Tropfen Wasser mehr im Magen. Aber schließlich stand ich. Graue Schlieren waberten über Malenkas perfektes Bild. Der Raum war ein Schiff im Sturm. Atmen. Gleichmäßig atmen. Ich merkte, daß ich mich immer noch an der Wand festhielt. Vorsichtig ließ ich los. Malenka sah mich an. Ich schenkte ihr ein zähnefletschendes Grinsen und machte einen Schritt auf sie zu. Und fiel. Der Raum zog sich unter mir weg, und der Boden stürzte auf mich zu.
Ehe er mich traf, spürte ich, daß ich aufgefangen und gehalten wurde. Malenkas Gesicht war über meinem. "Mutter des Lichts", flüsterte sie, "kannst du nicht um Hilfe bitten, alte Hexe?"
"Nein", sagte ich, und blendete wieder aus.
*
Teile dieser Nacht flackern noch wie Alptraumfetzen durch meine Erinnerung. Das Dorf im Schatten unter uns. Mondbeschienene Berge, die Gipfel schwarz gegen den sternenerfüllten Nachthimmel. Ein Schrei. Kaltes Lachen.
*
Die Sonne weckte mich. Sie stand schon hoch, hatte den Morgennebel weggebrannt und heizte die Berge auf. Ich war auf einer kleinen Stufe an einem Hang. Weit unten sah ich das Dorf liegen. Die Sonne brannte schmerzhaft auf meine Haut, und ich war unglaublich durstig. In der Nähe rieselte Wasser zwischen Steinen. Ich wollte mich bewegen und konnte es nicht. Die Erinnerungen kamen nur langsam wieder -- erst hielt ich sie für die Erinnerungen an einen schlechten Traum und suchte nach meinen letzten wachen Erinnerungen. Irgendwann mußte ich widerwillig zugeben, daß es kein Traum gewesen war.
Das Rieseln des Wassers machte mich wahnsinnig. Wenn ich vergangene Nacht hatte stehen können, sollte ich jetzt wenigstens imstande sein zu kriechen.
Es waren vielleicht zwei Meter bis zu dem Bach, der jetzt, im aufziehenden Sommer, sein Bett nur noch zu einem Bruchteil füllte. Ich glaube, ich brauchte eine halbe Stunde, um ihn zu erreichen. Das Wasser war eiskalt. Ich trank vorsichtig, ließ mir das Wasser über die Hände laufen und kühlte mein Gesicht. Ich fühlte mich fiebrig, aber meine Beine waren so kalt, als gehörten sie gar nicht zu mir.
Wenigstens mein Verstand kam rumpelnd wieder in die Gänge. Ich hatte unter einer Decke gelegen. Da war ein Korb gewesen. Ich trank mehr Wasser und schaffte den Rückweg innerhalb von ein paar Minuten. Ich erholte mich schnell. Natürlich tat ich das. In dem Korb war Brot, nur ein wenig altbacken, Pfirsiche und ein einfaches schwarzes Kleid. Ich schaffte fast einen ganzen Pfirsich, richtete es mir so warm und schattig wie möglich ein und fragte mich, wo Malenka war.
Der Tag verging. Bis auf die Schreie der Möwen war es still. Kein Stundengong schlug aus der Kirche, keine Rufe der ankommenden Fischer am Hafen, keine Bootsmotoren. Am Nachmittag hörte ich das Echo von Schüssen aus den Bergen.
Als die Sonne die Kämme der Hügel berührte, war der Bach nur noch vier vorsichtige Schritte entfernt. In zwei Tagen würde ich den Hang dort hinuntersteigen können. Und dann? Ein Boot stehlen, vielleicht. Wo war Malenka?
Langsam dämmerte mir, was für ein Riesenglück ich gehabt hatte. Die Räuber hatten es nicht nur nicht geschafft, mich totzuschlagen, sondern mich insgesamt nur relativ leicht verletzt, ich hatte Malenka getroffen, ohne die ich immer noch in der Gruft hocken und langsam mumifizieren würde, und das Treffen überlebt. Und das Netz, oder etwas, daß dem Netz ähnlich genug war, war dagewesen als ich es am meisten gebraucht hatte. Das war die Art von Glück, die man haben mußte, um eine wirklich alte Hexe zu werden.
Malenka. Das Netz. Ich grübelte über diese beiden Rätsel nach, während die Dämmerung fiel. Niemand, niemand hatte je davon erzählt, daß die Toten wieder aufstanden. Niemand hatte je die Geister der Toten gehört, außer in Wahnvorstellungen. (Das konnte ich nicht ausschließen.) Und das Netz: Was immer mit dem Netz geschehen war vor vier Nächten am Strand war kein Netzbrand gewesen, nicht der bekannte und katastrophale Rückschlag von außer Kontrolle geratener Energie -- obwohl es auf jeden, der nicht mein besonderes Talent hatte, den gleichen Effekt gehabt hätte. Es war etwas anderes gewesen, etwas Neues. So wie Malenka etwas Neues war.
Ich dachte über neue Dinge nach, während die alten Sterne im Himmel erschienen und plötzlich war Malenka da. Ich hatte sie nicht kommen gehört.
"Der Mutter des Lichts sei gedankt, du lebst!" sagte sie. "Ich wollte dich nicht zurücklassen, aber die Sonne ging auf und ich..." Ihre Haare hatten die Hälfte ihres Gesichtes verdeckt, jetzt schob sie sie zur Seite mit einer Hand, die in Bandagen gewickelt war. Die Haut hatte sich von ihrem Gesicht geschält wie Pergament.
"Die Sonne?" fragte ich. "Wie lange?"
"Drei Gongschläge", sagte sie.
Dreißig Sekunden. "Und dann?"
Sie wies das Bachbett hinunter, das sich nach einem Dutzend Meter tief in den Felsen einschnitt. "Dort ist ein Grotte."
"Was ist mit deiner Hand?" fragte ich.
"Die Grotte war nicht sehr groß." Sie betrachtete mißbilligend die Bandage. "Ich bin nicht einmal aufgewacht davon."
"Zeig her."
Sie zog ihre Hand weg. "Es wird schon besser."
"Tut es weh?"
"So etwas ähnliches. Wie geht es dir?"
Sonnenbrand. Halb verheilte Rippen, halb verhungert, halb verdurstet. Blaue Flecken von Kopf bis Fuß, inzwischen ein mattes grüngelb, bis auf einen am rechten Unterarm, der noch frisch und fast lila war. Rechter Arm einsatzfähig. Beine bedingt einsatzfähig. Linker Arm tadellos, Verstand den Umständen entsprechend. Mir war wieder kalt. "Ganz gut", sagte ich.
"Kannst du laufen?" fragte sie.
"Gehen. Wenn ich einen Stock kriege."
"Hm." Sie begann, trockene Zweige zu sammeln.
"Werde ich laufen müssen?" fragte ich.
"In dieser Nacht wird niemand wagen, sein Haus zu verlassen. Aber wenn sie morgen früh sehen, was ich in dieser Nacht getan habe, werden sie suchen. Mich werden sie nicht finden."
"Was hast du getan?"
Malenka beschäftigte sich damit, ein Feuer anzuzünden und gab keine Antwort. Ich wartete. Schließlich sagte sie, "Als ich zehn war, kam ein reicher Mann in die Stadt. Er wollte Land an der Ruinenbucht kaufen, wollte dort etwas bauen... ich weiß nicht, was. Eines Tages war er fort, und Newin und Petrok hatten neue Hüte und mehr Schnaps, als sie trinken konnten. Die Polizei kam drei Tage später mit dem Motorboot aus Tenarva. Sie sagten, in Alennes, das ist die nächste Insel im Süden, sei ein Toter angetrieben worden. Sie haben ihn nie identifiziert. Mein..." Sie hielt inne. "Der Ortsvorsteher schwor, der reiche Mann sei abgereist, und kam mit einem Pferd vom Herbstmarkt auf Tenarva wieder. Das Pferd brach sich ein Bein auf den Klippen im Jahr darauf. Ich habe jedes Jahr erwartet, daß jemand etwas merken würde. Aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Ich habe gedacht, sie würden die Leichen ins Meer werfen." Sie schauderte. Der Kirche ist jede Konservierung von Toten unheilig, eine Respektlosigkeit gegenüber den Kreisen der Welt.
"Mich hast du gewarnt", sagte ich.
"Äh", sagte sie, und blies vorsichtig das Feuer an, bis es hell und gelb flackerte.
"Und wie geht es dir?" fragte ich.
"Besser", sagte sie, und dann, "Nein. Anders. Ich fühle mich wie das Feuer. Wie die Nacht. Ich bin größer als ich es je war, und hungriger. Nach Blut. Nach Rache. Ich versuche, meine Möglichkeiten zu begreifen und sehe keine Grenze bis auf den Sonnenaufgang. Sieh!" Sie faßte mit der nicht bandagierten Hand in die Flamme und ich sah sie gelb auf ihrer offenen Handfläche tanzen, bis sie sie ins Feuer zurückfließen ließ wie ein Illusionist ein seidenes Tuch. "Ich habe ein Leben ohne jede Wahl gelebt. Ich gehörte nie mir. Und jetzt bin ich tot und gesetzlos, es ist mir egal, was die Nachbarn denken, und niemand kann mich halten." Die Flammen loderten auf und beleuchteten die unverbrannte Hälfte ihres Gesichts. Die andere verbargen die Schatten. "Und ich hasse es", sagte sie, leiser, "ich hasse mich dafür, mit solcher Freude zu töten. Mir wird übel vom Geschmack des Blutes, zu süß und zu schwer, wie verdorbener Wein, es steigt mir zu Kopf und macht mich fiebrig und krank und wie einen Opiumraucher gierig nach mehr. Endlose Jahre der Dunkelheit liegen vor mir, und mein Herz schreit und will die Sonne sehen."
Ich hatte meine eigenen Erinnerungen daran, wie ich die Jagd gehaßt und gebraucht und geliebt hatte, und wie es sich anfühlte, wenn die Zeit sich vor einem auftat wie eine Straße ohne Wegmarken, ein Himmel ohne Sterne. "Ich weiß", sagte ich.
"Hört es auf?" fragte sie.
Ich wußte es nicht. "Ich glaube nicht", sagte ich.
"Gut", sagte sie. "Denn wenn es aufhören würde, wehzutun, wäre ich ganz und gar ein Ungeheuer."
Sie verschwand, wie sie gekommen war. Das Feuer brannte in einer Mulde, rauchlos, nicht sichtbar vom Tal aus. Ich wärmte mich daran und sah zu, wie die Sterne über den Himmel wanderten. Ich hatte Hunger, aber das Brot war alle und die Pfirsiche auch.
Vor der Dämmerung weckte mich der Geruch von Rauch. Ich fuhr auf und sah, daß ich stand, ehe ich sah, was brannte. Die Kirche brannte, unten im Dorf, und das weiß verputzte Haus des Ortsvorstehers daneben, und das Gasthaus mit seinen hölzernen Balkonen und Weinranken. Gestalten rannten durch die Stadt, manche mit Fackeln, manche mit Eimern, einige mit Gewehren. Ein Boot legte vom der Kaimauer ab, das Segel hob sich dem Wind zu, ein Schuß krachte und das Segel fiel, das Boot trieb zurück und schlug gegen die Mauer. Ich duckte mich schnell wieder. Im Feuerschein erschien alles sehr nahe.
Als die Sonne aufging, waren die Feuer gelöscht, aber die Luft hing voller Rauch. Das mußte man bis Alennes sehen. Bis Tenarva, wahrscheinlich. In Tenarva war ein 'nenadriu Marinestützpunkt.
Es wurden keine Suchtrupps ausgeschickt an diesem Tag. Kein Boot verließ den Hafen. Ich wünschte, Malenka hätte daran gedacht, daß wir nicht alle von Rache allein leben konnten. An der Stelle, wo der Bach den Felseneinschnitt verließ, wurde er flacher und kleine Fische sonnten sich darin. Ich hatte nichts besseres zu tun, also fing ich ein paar mit der Hand und aß sie roh. Sie schmeckten gar nicht so schlecht.
Am Nachmittag zogen Gewitterwolken auf und der Himmel nahm die Farbe von Stahl an. Ich sah zu, daß ich aus dem Bachbett heraus und von der Felsnase herunterkam. Als der erste Blitz vom Himmel fuhr, spürte ich Energie um mich herum, kauerte mich zusammen, erwartete Elmsfeuer und spürte etwas anderes, Netzenergie, befreit aus dem Netz, aus der Netzebene, in die Chière und ich sie geschrieben hatten mit unserer Vorstellung davon, was das Netz war, was es sein sollte. Befreit, war sie im Wind, in der Dunkelheit, in der Erde selbst, lebendig, kreisend wie die Sterne, aber neu. Eine neue Sache, eine neue Zeit.
Malenka kam, nachdem das Gewitter geendet hatte und der Regen bereits nachließ. "Tenarva hat einen Aufklärer geschickt. Er kreuzt ein paar Meilen vor der Küste."
Wir sahen aufs Meer hinaus. Nach ein paar Stunden erscheinen die Lichter einer Fregatte und zweier Begleitboote im Osten. Der Wind trug schwach die Motorengeräusche zu uns, als sie näher kamen.
"Ich hätte diese Stadt viel früher anzünden sollen", sagte Malenka.
"Was wirst du jetzt tun?" fragte ich.
"Weggehen", sagte sie. "Die Welt sehen. Alles, was ich im Leben hätte tun sollen. Vielleicht werde ich mehr von meiner Art erschaffen, um Gesellschaft zu haben... oder damit sie tun, was kein Lebender die Freiheit hat zu tun. Aber wenn du zustimmst, Tanien, dann soll Frieden sein zwischen deiner Art und meiner."
"So soll es sein", sagte ich und hob die Hand. Sie schlug ein und ihr Griff war sehr vorsichtig.
"Und", sagte sie, "wenn du Hilfe brauchst, oder jemanden, der dich aus einem Loch holt... Ich werde da sein. Wenn ich kann."
Niemand, heißt es, ist Freund mit Jorikártis' Messer. Mutter Nacht lachte über uns, und ich mußte mitlachen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Elorie erklären sollte. "Danke", sagte ich.
***
'Nenadriu Marinesoldaten patrouillierten im Dorf und sahen sich besorgt nach Piraten um, die nicht da waren. Zwei von ihnen sahen mich, als ich vom Berg hinunter kam. Ich kämpfte den sinnlosen Impuls nieder, davonzulaufen, als sie die Gewehre hoben. Statt dessen blieb ich stehen, hob die Hände, um zu zeigen, daß ich unbewaffnet war, und sagte, "Bitte, Sie müssen mir helfen!"
Ich hatte Mißtrauen erwartet, statt dessen kam einer von ihnen auf mich zu, um mir seinen Arm anzubieten. "Sind Sie verletzt, Ama?" fragte er. Ama, Mütterchen. Ich mußte so alt aussehen, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf. "Bitte, bringen Sie mich zu ihrem kommandierenden Offizier. Sie wissen nicht, was hier vorgeht."
Die Luft im Dorf war grau und schwer und roch nach Brand und verrottendem Fisch. Außer den Soldaten schien niemand auf den Straßen zu sein.
Der Hauptmann der Marinesoldaten hatte Quartier in einem der Bürgerhäuser genommen, die verstreut den Hang hinauf standen und Dorf und Hafen überblickten. In gerader Linie hinter dem Haus, einen Kilometer entfernt vielleicht, ragte der Festungsturm auf, und für einen Moment konnte ich nicht weitergehen und beunruhigte den jungen Mann, der mich begleitete.
Der Hauptmann hatte einen grauen Bart und purpurne Litzen an der Uniform und war unglücklich mit der Situation. Zwölf Tote, drei Gebäude niedergebrannt, der schwerste Piratenüberfall seit elf Jahren, fast in Sichtweite von Tenarva. Und niemand hatte etwas gesehen, niemand hatte etwas gehört, und niemandem war etwas gestohlen worden. Manche seiner Männer, abergläubisch, flüsterten von Gespenstern, von einem berüchtigten Piraten, dessen Schiff vor langer Zeit mit Mann und Maus in diesen Gewässern untergegangen war... Er bot mir eine Zigarette an, die ich gierig annahm.
Ich sei etayru Historikerin, sagte ich auf seine Fragen. Ich sei mit dem Postschiff gekommen, interessierte mich für Ruinen. Auf dem Weg zur alten Festung hinauf sei zwei Männer mit Gewehren begegnet, die auf mich geschossen hätten. Nein, ich glaubte nicht, daß sie mich für ein verwildertes Schaf gehalten hatten. Ich sei ihnen entkommen und hätte mich in den Bergen versteckt. Drei Tage? Vier? Ich wußte es nicht. Und auch ich hatte keine Piraten gesehen.
Schließlich schickte der Hauptmann drei Mann los, um die alte Festung zu untersuchen. Es dauerte vier Stunden, bis sie wiederkamen, grau im Gesicht, und Bericht erstatteten. Ein Funkgerät knarzte und knackte im Nebenraum. Der Hauptmann sah mich sehr nachdenklich an. "Was haben Sie während des Krieges gemacht?" fragte er.
Ennadria hatte kein Interesse an unserem Krieg gehabt, und Lerantar hatte es besser gewußt als das gut bewaffnete Ennadria mit seinen Festungen und Kanonen und seinen Verbündeten im Süden und Westen anzugreifen. Kein 'nenadriu Marinehauptmann sollte mein Gesicht kennen. "Versucht, zu überleben", sagte ich.
"Haben Sie die Männer getötet?", fragte er.
"Ich habe niemanden getötet."
"Wußten Sie, was in dem Turm ist?"
Ja, wollte ich sagen, aber meine Stimme versagte. Ich schloß die Augen. "Ja," sagte ich.
*
Das Schiff, das am nächsten Morgen im Hafen anlegte, trug den goldenen Stern der 'nenadriu Polizei.
Es brachte den Magistrat von Tenarva und viele grimmig dreinblickende Polizisten, eine Priesterin mit zwei breitschultrigen Gehilfen, einen Forensiker mit seinem Assistenten, und einen mageren Mann in einer schlechtsitzenden Gelehrtenrobe.
Der Magistrat hielt die Verhöre auf dem Marktplatz. Der Ortsvorsteher schob alle Schuld auf die Toten. Seine Frau saß mit steinernem Gesicht daneben. Der Mann in der Robe versuchte, ihren Blick auf sich zu lenken, aber sie sah durch ihn hindurch.
Am Abend saß ich am Strand und hörte den Wellen zu, während die Dämmerung fiel. Es war der letzte Tag des aufziehenden Sommers, die kürzeste Nacht des Jahres, und der Wind war mild. Bald würde die Hitze wieder über das Land herfallen. Schritte näherten sich, und ich fuhr herum. Der Gelehrte schreckte zurück. "Verzeihen Sie", sagte er. Ein sauberer, altertümlicher Akzent, wie es sich für einen Professor oder Schulmeister gehörte. "Können Sie mir sagen... Sie sind die einzige Zeugin... die einzige Überlebende..."
"Wen suchen Sie?" fragte ich.
"Meine Tochter", sagte er.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Marinesoldaten hatten sich leicht anschnorren lassen. Mit den Polizisten würde es, fürchtete ich, schwieriger werden. "Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter", sagte ich.
*
Am ersten Tag des herrschenden Sommers verließen die Marineschiffe die Insel. Der Hauptmann murmelte etwas davon, froh zu sein, diesen verwünschten Ort hinter sich zu lassen. Ich saß an Deck und fachsimpelte mit einer Techoffizierin, während die Insel hinter uns zurückfiel. Die See war weit und blau unter einem Himmel, der sich nicht geändert hatte, leer seit fünfhundertfünfzig Jahren, für immer unerreichbar für uns. Aber zwischen Himmel und Meer, im Wind und in den Schatten und in der Erde selbst, war etwas anders, als es gewesen war, und während ich mit der Offizierin über Dinge sprach, die bald Vergangenheit sein würden, spürte ich, wie sich unaufhaltsam die Welt in ein neues Zeitalter drehte.
***
All das ist zweihundert Jahre her. Lyy ist ein Ödland und menschenleer, ein verfluchter Ort, sagt man. Malenka habe ich nie wiedergesehen.
Seither habe ich mehrere von ihrer Art getroffen, doch in den wenigsten von ihnen brennt Jorikártis' Feuer. Sie verfallen der Verlockungen der Welt, Genuß und Blut und Macht, sie spielen Spiele mit den Menschen und mit der Welt. Man nennt sie "Vampire", nach den Wesen in den Spukgeschichten, die Kinder sich erzählten. Und die Vampire nennen ehrfurchtsvoll Malenka ihrer aller Mutter, und bis zu diesem Tage halten sie den Vertrag von Lyy.
Und so halten auch ich und die meinen ihn.
ENDE
Author: the Lyorn
Language: German
Words: ca. 10,000
Setting: original
Rating: 12
Genre: Adventure, Drama, Horror
Summary: "Merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
Parts: [1/2], [2/2]
Anmerkungen: Diese Geschichte ist ein Teil von einem längeren Zyklus. Wahrscheinlich ist das nicht zu übersehen, ich hoffe aber, daß sie auch für sich alleine stehen kann. Eine ältere Version dieser Geschichte ist (im Moment noch) auf meiner Webseite.
Danke an Ceridwen, Snow,
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Kritik und Kommentare sind willkommen.

Malenka by Ingeborg Denner is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-Share Alike 3.0 Germany License.
MALENKA (2/2)
Eine Stimme rief mich, eine fremde, angenehme Stimme. Ich war noch nicht einmal halb wieder da und merkte schon, daß es mir ausgesprochen schlecht ging. Ich war in kalten Schweiß gebadet und meine Zähne, nein, alles an mir klapperte, mir war übel, und was mir alles wehtat wollte ich gar nicht wissen. Immerhin hieß das, ich lebte. Ich wußte noch nicht, was ich davon hielt.
"Lebst du?" fragte die Stimme.
Mit Mühe brachte ich die Worte hervor. "Ja. Leider."
"Es tut mir leid", sagte die Stimme. Malenka, fiel mir der Name ein. Sie klang anders. "Jetzt komm, alte Hexe, wir müssen hier verschwinden."
So groggy konnte ich gar nicht sein, daß mir ein Vorschlag, sich zu verdrücken, nicht eingeleuchtet hätte. Ich wollte die Augen öffnen und merkte, daß ich sie schon offen hatte. Kein gutes Zeichen.
"Ganz meiner Meinung", sagte ich, und war überrascht, daß meine Zunge nur ein bißchen stolperte. "Gib mir eine Minute, damit ich mich wieder zusammensetzen kann." Wenn ich nicht sehr viel Glück hatte, würde das mehr als eine Minute dauern, aber irgendwo muß man anfangen.
"Ja. Es tut mir wirklich leid. Ich wußte nicht -- ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde."
Willkommen im Club. Ihr Stimme schien von weither zu kommen. "Malenka?" sagte ich.
"Ja?"
"Verstehst du was von erster Hilfe?"
"Eh -- ein kleines bißchen... wieso?"
"Behandlung für Schock und Blutverlust?"
"Oh."
Ich erwartete ein Ziehen und Schieben, statt dessen spürte ich, wie ich vorsichtig hochgenommen und anders wieder hingelegt wurde, und durch mein wirres Gehirn zog sich das Bild, daß die anderen Toten jetzt ebenfalls durch den Raum wanderten und Malenka zur Hand gingen.
Nach ein paar Sekunden bemerkte ich, daß ich die Decke des Raumes sah. Ich drehte den Kopf und sah Malenka. Sie erschien mir von einer dunklen, glänzenden Aura umgeben wie von schwarzem Samt, und sah fast lebendig aus -- lebendiger als ich, vermutlich. Ich schätzte meinen Zustand ab. Katastrophal. Ich würde diese Nacht nirgendwo hingehen. Und morgen auch nicht.
"Ich kann dich tragen", sagte Malenka. "Aber da oben sind Petrok und, ich glaube, Jesan, mit Gewehren. Vielleicht haben sie etwas gehört. Ich kümmere mich um sie." Sie trat unter das Loch in der Decke, ohne die Schädel zu beachten, die sie zweifelnd anstarrten, sprang hinauf wie eine Katze und war verschwunden.
Meinen rechten Arm zu bewegen war unmöglich, und den Kopf weit genug zu heben, um etwas zu sehen schien keine gute Idee. Ich tastete mit der linken Hand und spürte, wie klebriges Blut durch meine Finger sickerte. Nicht gut, gar nicht gut. Es dürfte nicht mehr bluten. Ich versuchte, die Hand gegen die Wunde zu pressen, aber der Winkel war unmöglich, und ich war zu schwach. Die Panik überwältigte mich. Ich sah mich auf dem Boden dieser Gruft liegen und verbluten. Ich wollte schreien, wollte nach Malenka rufen, nach Hilfe, brachte aber nur ein schwaches Fiepen hervor.
Jemand anders schrie, ein Mann, in Todesangst. Der Schrei brach abrupt ab und drang durch meine Panik. Ich hatte etwas Biofeedback gelernt, wenn auch in friedlichen Meditationsräumen -- ich konnte zumindest meinen Kreislauf ein wenig stabilisieren und meinen Verstand wieder zusammensammeln.
Es konnte nicht stark bluten, und solange ich den Kopf unten hatte und bei Bewußtsein blieb, war es nicht gefährlich. Malenka würde wiederkommen. Aber Malenka war eine Verbündete, keine Freundin. Sie war gefährlich, und ich wollte ihr gegenüber nicht noch mehr Schwäche zeigen, wenn ich es vermeiden konnte.
Alles wäre so einfach, dachte ich frustriert, wenn das Netz noch funktionieren würde. Es waren Leute mit Heilfähigkeiten im Netz gewesen, und ihre Talente, wie alle anderen auch, hatten sich in das Gewebe geprägt, unterstützt von der Netzenergie von zehntausend oder mehr Netzleuten, bis sich jeder, der genug Netzsinn hatte, um die Fähigkeit zu finden und genug Energie aus dem Netz ziehen konnte, um sie einzusetzen, diese kleine Verletzung in dreißig Sekunden hätte heilen können. Mit meiner Begabung, Energie zu halten und zu handhaben, hätte ich es mit der Fertigkeit alleine geschafft. Ich stellte mir vor, wie die Heilfähigkeit sich anfühlte, wenn man sie im Netz fand, kühl und grün wie Sommerblätter, weich wie Quellwasser, wie sie einen die Dinge so sehen ließ, wie sie sein sollten, nicht wie sie waren... Sehnen und Knorpel, Adern und Muskeln an der Schulter, im Ellenbogen, ein perfektes Zusammenspiel, alles am richtigen Platz und in der richtigen Form, die Adern im Fettgewebe des Unterarms, nahe unter der Haut, glatt und rund und geschlossen, die Hautschichten darüber ordentlich angeordnet, jede da, wo sie hingehörte... und jetzt die Energie ziehen, das Bild mit Leben füllen, mit dem Glauben, dem Wissen, daß alles genau so ist, wie es sein soll, und die Energie hineinfließen lassen, kühl, klar, grün, und ohne Fehler...
Es war, als wenn etwas an seinen Platz rutschte und einrastete. Ich tastete erneut meinen rechten Arm ab. Die Schwellung am Ellenbogen war deutlich reduziert. Die Haut auf der Innenseite des Unterarms, unter dem halbgeronnenen Blut, war glatt und heil.
Ein Scharren oben, und Malenka sprang durch das Loch in der Decke hinunter als seien die drei Meter gar nichts. Das Blut an ihren Lippen war schwarz im fahlen Licht.
"Wisch dir den Mund ab", sagte ich. "Was hast du mit ihnen gemacht?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich wußte nicht, das Leben so zerbrechlich ist. Jesan habe ich den Hals gebrochen. Petrok... ich hatte nicht vor, ihn schnell zu töten, aber..." Sie sah verwirrt aus. "Ich habe sie ins Meer geworfen. Das ist mehr Respekt, als sie für uns hatten."
Irgend etwas war mit dem Meer gewesen, und mit Strömungen, aber es war nichts, was nicht Zeit gehabt hätte. "Wie war das mit Abhauen?" fragte ich.
"Ja. Kannst du gehen?"
Ich nahm die Beine von dem Steinblock herunter und rollte mich auf die rechte Seite. Langsam, Tanien, langsam. Als mir nur noch mäßig schwindlig war, zog ich die Beine an und stemmte mich mit dem linken Arm hoch, drehte mich, und schaffte es, meine Knie unter mich zu bringen. Gleichmäßig atmen. Mir war übel. Stehen war unmöglich. Gehen war Phantasterei. Malenka beobachtete meine Bemühungen mit offenkundiger Faszination. Mit den Fingern fand ich Halt in Mauerritzen, schaffte es in eine kniende Position. Einen Fuß auf den Boden, und jetzt aufstehen. Ich fand die Kraft nicht. Ich hatte drei Tage? vier? an der Mauer gehockt, meine Beine hatten nicht mehr Kraft als junges Gras. Malenka sah mir zu wie ein gelangweiltes Kind dem verzweifelten Strampeln eines auf den Rücken gefallenen Käfers. Sie hatte mich nicht getötet, aber ich glaubte nicht mehr, daß sie mir helfen würde. Ich zog mich mit beiden Händen an der Wand hoch. Mein Magen drehte sich um. Mein Kopf wurde leicht. Ich spuckte Galle, ich hatte nicht einmal einen Tropfen Wasser mehr im Magen. Aber schließlich stand ich. Graue Schlieren waberten über Malenkas perfektes Bild. Der Raum war ein Schiff im Sturm. Atmen. Gleichmäßig atmen. Ich merkte, daß ich mich immer noch an der Wand festhielt. Vorsichtig ließ ich los. Malenka sah mich an. Ich schenkte ihr ein zähnefletschendes Grinsen und machte einen Schritt auf sie zu. Und fiel. Der Raum zog sich unter mir weg, und der Boden stürzte auf mich zu.
Ehe er mich traf, spürte ich, daß ich aufgefangen und gehalten wurde. Malenkas Gesicht war über meinem. "Mutter des Lichts", flüsterte sie, "kannst du nicht um Hilfe bitten, alte Hexe?"
"Nein", sagte ich, und blendete wieder aus.
*
Teile dieser Nacht flackern noch wie Alptraumfetzen durch meine Erinnerung. Das Dorf im Schatten unter uns. Mondbeschienene Berge, die Gipfel schwarz gegen den sternenerfüllten Nachthimmel. Ein Schrei. Kaltes Lachen.
*
Die Sonne weckte mich. Sie stand schon hoch, hatte den Morgennebel weggebrannt und heizte die Berge auf. Ich war auf einer kleinen Stufe an einem Hang. Weit unten sah ich das Dorf liegen. Die Sonne brannte schmerzhaft auf meine Haut, und ich war unglaublich durstig. In der Nähe rieselte Wasser zwischen Steinen. Ich wollte mich bewegen und konnte es nicht. Die Erinnerungen kamen nur langsam wieder -- erst hielt ich sie für die Erinnerungen an einen schlechten Traum und suchte nach meinen letzten wachen Erinnerungen. Irgendwann mußte ich widerwillig zugeben, daß es kein Traum gewesen war.
Das Rieseln des Wassers machte mich wahnsinnig. Wenn ich vergangene Nacht hatte stehen können, sollte ich jetzt wenigstens imstande sein zu kriechen.
Es waren vielleicht zwei Meter bis zu dem Bach, der jetzt, im aufziehenden Sommer, sein Bett nur noch zu einem Bruchteil füllte. Ich glaube, ich brauchte eine halbe Stunde, um ihn zu erreichen. Das Wasser war eiskalt. Ich trank vorsichtig, ließ mir das Wasser über die Hände laufen und kühlte mein Gesicht. Ich fühlte mich fiebrig, aber meine Beine waren so kalt, als gehörten sie gar nicht zu mir.
Wenigstens mein Verstand kam rumpelnd wieder in die Gänge. Ich hatte unter einer Decke gelegen. Da war ein Korb gewesen. Ich trank mehr Wasser und schaffte den Rückweg innerhalb von ein paar Minuten. Ich erholte mich schnell. Natürlich tat ich das. In dem Korb war Brot, nur ein wenig altbacken, Pfirsiche und ein einfaches schwarzes Kleid. Ich schaffte fast einen ganzen Pfirsich, richtete es mir so warm und schattig wie möglich ein und fragte mich, wo Malenka war.
Der Tag verging. Bis auf die Schreie der Möwen war es still. Kein Stundengong schlug aus der Kirche, keine Rufe der ankommenden Fischer am Hafen, keine Bootsmotoren. Am Nachmittag hörte ich das Echo von Schüssen aus den Bergen.
Als die Sonne die Kämme der Hügel berührte, war der Bach nur noch vier vorsichtige Schritte entfernt. In zwei Tagen würde ich den Hang dort hinuntersteigen können. Und dann? Ein Boot stehlen, vielleicht. Wo war Malenka?
Langsam dämmerte mir, was für ein Riesenglück ich gehabt hatte. Die Räuber hatten es nicht nur nicht geschafft, mich totzuschlagen, sondern mich insgesamt nur relativ leicht verletzt, ich hatte Malenka getroffen, ohne die ich immer noch in der Gruft hocken und langsam mumifizieren würde, und das Treffen überlebt. Und das Netz, oder etwas, daß dem Netz ähnlich genug war, war dagewesen als ich es am meisten gebraucht hatte. Das war die Art von Glück, die man haben mußte, um eine wirklich alte Hexe zu werden.
Malenka. Das Netz. Ich grübelte über diese beiden Rätsel nach, während die Dämmerung fiel. Niemand, niemand hatte je davon erzählt, daß die Toten wieder aufstanden. Niemand hatte je die Geister der Toten gehört, außer in Wahnvorstellungen. (Das konnte ich nicht ausschließen.) Und das Netz: Was immer mit dem Netz geschehen war vor vier Nächten am Strand war kein Netzbrand gewesen, nicht der bekannte und katastrophale Rückschlag von außer Kontrolle geratener Energie -- obwohl es auf jeden, der nicht mein besonderes Talent hatte, den gleichen Effekt gehabt hätte. Es war etwas anderes gewesen, etwas Neues. So wie Malenka etwas Neues war.
Ich dachte über neue Dinge nach, während die alten Sterne im Himmel erschienen und plötzlich war Malenka da. Ich hatte sie nicht kommen gehört.
"Der Mutter des Lichts sei gedankt, du lebst!" sagte sie. "Ich wollte dich nicht zurücklassen, aber die Sonne ging auf und ich..." Ihre Haare hatten die Hälfte ihres Gesichtes verdeckt, jetzt schob sie sie zur Seite mit einer Hand, die in Bandagen gewickelt war. Die Haut hatte sich von ihrem Gesicht geschält wie Pergament.
"Die Sonne?" fragte ich. "Wie lange?"
"Drei Gongschläge", sagte sie.
Dreißig Sekunden. "Und dann?"
Sie wies das Bachbett hinunter, das sich nach einem Dutzend Meter tief in den Felsen einschnitt. "Dort ist ein Grotte."
"Was ist mit deiner Hand?" fragte ich.
"Die Grotte war nicht sehr groß." Sie betrachtete mißbilligend die Bandage. "Ich bin nicht einmal aufgewacht davon."
"Zeig her."
Sie zog ihre Hand weg. "Es wird schon besser."
"Tut es weh?"
"So etwas ähnliches. Wie geht es dir?"
Sonnenbrand. Halb verheilte Rippen, halb verhungert, halb verdurstet. Blaue Flecken von Kopf bis Fuß, inzwischen ein mattes grüngelb, bis auf einen am rechten Unterarm, der noch frisch und fast lila war. Rechter Arm einsatzfähig. Beine bedingt einsatzfähig. Linker Arm tadellos, Verstand den Umständen entsprechend. Mir war wieder kalt. "Ganz gut", sagte ich.
"Kannst du laufen?" fragte sie.
"Gehen. Wenn ich einen Stock kriege."
"Hm." Sie begann, trockene Zweige zu sammeln.
"Werde ich laufen müssen?" fragte ich.
"In dieser Nacht wird niemand wagen, sein Haus zu verlassen. Aber wenn sie morgen früh sehen, was ich in dieser Nacht getan habe, werden sie suchen. Mich werden sie nicht finden."
"Was hast du getan?"
Malenka beschäftigte sich damit, ein Feuer anzuzünden und gab keine Antwort. Ich wartete. Schließlich sagte sie, "Als ich zehn war, kam ein reicher Mann in die Stadt. Er wollte Land an der Ruinenbucht kaufen, wollte dort etwas bauen... ich weiß nicht, was. Eines Tages war er fort, und Newin und Petrok hatten neue Hüte und mehr Schnaps, als sie trinken konnten. Die Polizei kam drei Tage später mit dem Motorboot aus Tenarva. Sie sagten, in Alennes, das ist die nächste Insel im Süden, sei ein Toter angetrieben worden. Sie haben ihn nie identifiziert. Mein..." Sie hielt inne. "Der Ortsvorsteher schwor, der reiche Mann sei abgereist, und kam mit einem Pferd vom Herbstmarkt auf Tenarva wieder. Das Pferd brach sich ein Bein auf den Klippen im Jahr darauf. Ich habe jedes Jahr erwartet, daß jemand etwas merken würde. Aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Ich habe gedacht, sie würden die Leichen ins Meer werfen." Sie schauderte. Der Kirche ist jede Konservierung von Toten unheilig, eine Respektlosigkeit gegenüber den Kreisen der Welt.
"Mich hast du gewarnt", sagte ich.
"Äh", sagte sie, und blies vorsichtig das Feuer an, bis es hell und gelb flackerte.
"Und wie geht es dir?" fragte ich.
"Besser", sagte sie, und dann, "Nein. Anders. Ich fühle mich wie das Feuer. Wie die Nacht. Ich bin größer als ich es je war, und hungriger. Nach Blut. Nach Rache. Ich versuche, meine Möglichkeiten zu begreifen und sehe keine Grenze bis auf den Sonnenaufgang. Sieh!" Sie faßte mit der nicht bandagierten Hand in die Flamme und ich sah sie gelb auf ihrer offenen Handfläche tanzen, bis sie sie ins Feuer zurückfließen ließ wie ein Illusionist ein seidenes Tuch. "Ich habe ein Leben ohne jede Wahl gelebt. Ich gehörte nie mir. Und jetzt bin ich tot und gesetzlos, es ist mir egal, was die Nachbarn denken, und niemand kann mich halten." Die Flammen loderten auf und beleuchteten die unverbrannte Hälfte ihres Gesichts. Die andere verbargen die Schatten. "Und ich hasse es", sagte sie, leiser, "ich hasse mich dafür, mit solcher Freude zu töten. Mir wird übel vom Geschmack des Blutes, zu süß und zu schwer, wie verdorbener Wein, es steigt mir zu Kopf und macht mich fiebrig und krank und wie einen Opiumraucher gierig nach mehr. Endlose Jahre der Dunkelheit liegen vor mir, und mein Herz schreit und will die Sonne sehen."
Ich hatte meine eigenen Erinnerungen daran, wie ich die Jagd gehaßt und gebraucht und geliebt hatte, und wie es sich anfühlte, wenn die Zeit sich vor einem auftat wie eine Straße ohne Wegmarken, ein Himmel ohne Sterne. "Ich weiß", sagte ich.
"Hört es auf?" fragte sie.
Ich wußte es nicht. "Ich glaube nicht", sagte ich.
"Gut", sagte sie. "Denn wenn es aufhören würde, wehzutun, wäre ich ganz und gar ein Ungeheuer."
Sie verschwand, wie sie gekommen war. Das Feuer brannte in einer Mulde, rauchlos, nicht sichtbar vom Tal aus. Ich wärmte mich daran und sah zu, wie die Sterne über den Himmel wanderten. Ich hatte Hunger, aber das Brot war alle und die Pfirsiche auch.
Vor der Dämmerung weckte mich der Geruch von Rauch. Ich fuhr auf und sah, daß ich stand, ehe ich sah, was brannte. Die Kirche brannte, unten im Dorf, und das weiß verputzte Haus des Ortsvorstehers daneben, und das Gasthaus mit seinen hölzernen Balkonen und Weinranken. Gestalten rannten durch die Stadt, manche mit Fackeln, manche mit Eimern, einige mit Gewehren. Ein Boot legte vom der Kaimauer ab, das Segel hob sich dem Wind zu, ein Schuß krachte und das Segel fiel, das Boot trieb zurück und schlug gegen die Mauer. Ich duckte mich schnell wieder. Im Feuerschein erschien alles sehr nahe.
Als die Sonne aufging, waren die Feuer gelöscht, aber die Luft hing voller Rauch. Das mußte man bis Alennes sehen. Bis Tenarva, wahrscheinlich. In Tenarva war ein 'nenadriu Marinestützpunkt.
Es wurden keine Suchtrupps ausgeschickt an diesem Tag. Kein Boot verließ den Hafen. Ich wünschte, Malenka hätte daran gedacht, daß wir nicht alle von Rache allein leben konnten. An der Stelle, wo der Bach den Felseneinschnitt verließ, wurde er flacher und kleine Fische sonnten sich darin. Ich hatte nichts besseres zu tun, also fing ich ein paar mit der Hand und aß sie roh. Sie schmeckten gar nicht so schlecht.
Am Nachmittag zogen Gewitterwolken auf und der Himmel nahm die Farbe von Stahl an. Ich sah zu, daß ich aus dem Bachbett heraus und von der Felsnase herunterkam. Als der erste Blitz vom Himmel fuhr, spürte ich Energie um mich herum, kauerte mich zusammen, erwartete Elmsfeuer und spürte etwas anderes, Netzenergie, befreit aus dem Netz, aus der Netzebene, in die Chière und ich sie geschrieben hatten mit unserer Vorstellung davon, was das Netz war, was es sein sollte. Befreit, war sie im Wind, in der Dunkelheit, in der Erde selbst, lebendig, kreisend wie die Sterne, aber neu. Eine neue Sache, eine neue Zeit.
Malenka kam, nachdem das Gewitter geendet hatte und der Regen bereits nachließ. "Tenarva hat einen Aufklärer geschickt. Er kreuzt ein paar Meilen vor der Küste."
Wir sahen aufs Meer hinaus. Nach ein paar Stunden erscheinen die Lichter einer Fregatte und zweier Begleitboote im Osten. Der Wind trug schwach die Motorengeräusche zu uns, als sie näher kamen.
"Ich hätte diese Stadt viel früher anzünden sollen", sagte Malenka.
"Was wirst du jetzt tun?" fragte ich.
"Weggehen", sagte sie. "Die Welt sehen. Alles, was ich im Leben hätte tun sollen. Vielleicht werde ich mehr von meiner Art erschaffen, um Gesellschaft zu haben... oder damit sie tun, was kein Lebender die Freiheit hat zu tun. Aber wenn du zustimmst, Tanien, dann soll Frieden sein zwischen deiner Art und meiner."
"So soll es sein", sagte ich und hob die Hand. Sie schlug ein und ihr Griff war sehr vorsichtig.
"Und", sagte sie, "wenn du Hilfe brauchst, oder jemanden, der dich aus einem Loch holt... Ich werde da sein. Wenn ich kann."
Niemand, heißt es, ist Freund mit Jorikártis' Messer. Mutter Nacht lachte über uns, und ich mußte mitlachen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Elorie erklären sollte. "Danke", sagte ich.
***
'Nenadriu Marinesoldaten patrouillierten im Dorf und sahen sich besorgt nach Piraten um, die nicht da waren. Zwei von ihnen sahen mich, als ich vom Berg hinunter kam. Ich kämpfte den sinnlosen Impuls nieder, davonzulaufen, als sie die Gewehre hoben. Statt dessen blieb ich stehen, hob die Hände, um zu zeigen, daß ich unbewaffnet war, und sagte, "Bitte, Sie müssen mir helfen!"
Ich hatte Mißtrauen erwartet, statt dessen kam einer von ihnen auf mich zu, um mir seinen Arm anzubieten. "Sind Sie verletzt, Ama?" fragte er. Ama, Mütterchen. Ich mußte so alt aussehen, wie ich mich fühlte. Ich schüttelte den Kopf. "Bitte, bringen Sie mich zu ihrem kommandierenden Offizier. Sie wissen nicht, was hier vorgeht."
Die Luft im Dorf war grau und schwer und roch nach Brand und verrottendem Fisch. Außer den Soldaten schien niemand auf den Straßen zu sein.
Der Hauptmann der Marinesoldaten hatte Quartier in einem der Bürgerhäuser genommen, die verstreut den Hang hinauf standen und Dorf und Hafen überblickten. In gerader Linie hinter dem Haus, einen Kilometer entfernt vielleicht, ragte der Festungsturm auf, und für einen Moment konnte ich nicht weitergehen und beunruhigte den jungen Mann, der mich begleitete.
Der Hauptmann hatte einen grauen Bart und purpurne Litzen an der Uniform und war unglücklich mit der Situation. Zwölf Tote, drei Gebäude niedergebrannt, der schwerste Piratenüberfall seit elf Jahren, fast in Sichtweite von Tenarva. Und niemand hatte etwas gesehen, niemand hatte etwas gehört, und niemandem war etwas gestohlen worden. Manche seiner Männer, abergläubisch, flüsterten von Gespenstern, von einem berüchtigten Piraten, dessen Schiff vor langer Zeit mit Mann und Maus in diesen Gewässern untergegangen war... Er bot mir eine Zigarette an, die ich gierig annahm.
Ich sei etayru Historikerin, sagte ich auf seine Fragen. Ich sei mit dem Postschiff gekommen, interessierte mich für Ruinen. Auf dem Weg zur alten Festung hinauf sei zwei Männer mit Gewehren begegnet, die auf mich geschossen hätten. Nein, ich glaubte nicht, daß sie mich für ein verwildertes Schaf gehalten hatten. Ich sei ihnen entkommen und hätte mich in den Bergen versteckt. Drei Tage? Vier? Ich wußte es nicht. Und auch ich hatte keine Piraten gesehen.
Schließlich schickte der Hauptmann drei Mann los, um die alte Festung zu untersuchen. Es dauerte vier Stunden, bis sie wiederkamen, grau im Gesicht, und Bericht erstatteten. Ein Funkgerät knarzte und knackte im Nebenraum. Der Hauptmann sah mich sehr nachdenklich an. "Was haben Sie während des Krieges gemacht?" fragte er.
Ennadria hatte kein Interesse an unserem Krieg gehabt, und Lerantar hatte es besser gewußt als das gut bewaffnete Ennadria mit seinen Festungen und Kanonen und seinen Verbündeten im Süden und Westen anzugreifen. Kein 'nenadriu Marinehauptmann sollte mein Gesicht kennen. "Versucht, zu überleben", sagte ich.
"Haben Sie die Männer getötet?", fragte er.
"Ich habe niemanden getötet."
"Wußten Sie, was in dem Turm ist?"
Ja, wollte ich sagen, aber meine Stimme versagte. Ich schloß die Augen. "Ja," sagte ich.
*
Das Schiff, das am nächsten Morgen im Hafen anlegte, trug den goldenen Stern der 'nenadriu Polizei.
Es brachte den Magistrat von Tenarva und viele grimmig dreinblickende Polizisten, eine Priesterin mit zwei breitschultrigen Gehilfen, einen Forensiker mit seinem Assistenten, und einen mageren Mann in einer schlechtsitzenden Gelehrtenrobe.
Der Magistrat hielt die Verhöre auf dem Marktplatz. Der Ortsvorsteher schob alle Schuld auf die Toten. Seine Frau saß mit steinernem Gesicht daneben. Der Mann in der Robe versuchte, ihren Blick auf sich zu lenken, aber sie sah durch ihn hindurch.
Am Abend saß ich am Strand und hörte den Wellen zu, während die Dämmerung fiel. Es war der letzte Tag des aufziehenden Sommers, die kürzeste Nacht des Jahres, und der Wind war mild. Bald würde die Hitze wieder über das Land herfallen. Schritte näherten sich, und ich fuhr herum. Der Gelehrte schreckte zurück. "Verzeihen Sie", sagte er. Ein sauberer, altertümlicher Akzent, wie es sich für einen Professor oder Schulmeister gehörte. "Können Sie mir sagen... Sie sind die einzige Zeugin... die einzige Überlebende..."
"Wen suchen Sie?" fragte ich.
"Meine Tochter", sagte er.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Marinesoldaten hatten sich leicht anschnorren lassen. Mit den Polizisten würde es, fürchtete ich, schwieriger werden. "Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter", sagte ich.
*
Am ersten Tag des herrschenden Sommers verließen die Marineschiffe die Insel. Der Hauptmann murmelte etwas davon, froh zu sein, diesen verwünschten Ort hinter sich zu lassen. Ich saß an Deck und fachsimpelte mit einer Techoffizierin, während die Insel hinter uns zurückfiel. Die See war weit und blau unter einem Himmel, der sich nicht geändert hatte, leer seit fünfhundertfünfzig Jahren, für immer unerreichbar für uns. Aber zwischen Himmel und Meer, im Wind und in den Schatten und in der Erde selbst, war etwas anders, als es gewesen war, und während ich mit der Offizierin über Dinge sprach, die bald Vergangenheit sein würden, spürte ich, wie sich unaufhaltsam die Welt in ein neues Zeitalter drehte.
***
All das ist zweihundert Jahre her. Lyy ist ein Ödland und menschenleer, ein verfluchter Ort, sagt man. Malenka habe ich nie wiedergesehen.
Seither habe ich mehrere von ihrer Art getroffen, doch in den wenigsten von ihnen brennt Jorikártis' Feuer. Sie verfallen der Verlockungen der Welt, Genuß und Blut und Macht, sie spielen Spiele mit den Menschen und mit der Welt. Man nennt sie "Vampire", nach den Wesen in den Spukgeschichten, die Kinder sich erzählten. Und die Vampire nennen ehrfurchtsvoll Malenka ihrer aller Mutter, und bis zu diesem Tage halten sie den Vertrag von Lyy.
Und so halten auch ich und die meinen ihn.
ENDE