Original Story: Malenka 1/2 (in German)
Dec. 13th, 2008 08:18 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
This is my first attempt to post a full fic and not only an excerpt or teaser on my LJ. (Is curious if this will work.)
Title: Malenka (1/2)
Author: the Lyorn
Language: German
Words: ca. 10,000
Setting: original
Rating: 12
Genre: Adventure, Drama, Horror
Summary: "Merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
Parts: [1/2], [2/2]
Anmerkungen: Diese Geschichte ist ein Teil von einem längeren Zyklus. Wahrscheinlich ist das nicht zu übersehen, ich hoffe aber, daß sie auch für sich alleine stehen kann. Eine ältere Version dieser Geschichte ist (im Moment noch) auf meiner Webseite.
Danke an Ceridwen, Snow,
mad_freddy, und alle, die sonst noch ihren Senf und ihre Rechtschreibkorrekturen dazugegeben haben. Ein extradickes Danke an
flederkatz, ohne die diese Geschichte nie das Tageslicht gesehen hätte.
Kritik und Kommentare sind willkommen.

Malenka by Ingeborg Denner is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-Share Alike 3.0 Germany License.
MALENKA (1/2)
Zu sagen, daß meine Begegnung mit Malenka merkwürdig war, wird der Sache nicht gerecht. Ich traf sie im Jahr 543, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, zu einer Zeit, wo den meisten von uns noch nicht klar war, was wir verloren hatten: Daß die Zeit, die wir die unsere genannt hatten, die Zeit der Vernunft und der Gewißheit, unwiderruflich vorbei war, und alle unsere Versuche, sie zu halten, gescheitert.
Malenka war ein Wesen aus einer Spukgeschichte, wie Kinder sie sich am Lagerfeuer erzählt hatten vor fünfhundert Jahren, als ich jung war und wir, gelangweilt von Gewißheit und Sicherheit, beides nur zu gerne ausgetauscht hätten gegen Monster in den Schatten. Manche, denen ich heute diese Geschichte erzähle, sehen Malenka nur als eines dieser Monster, ein Symbol des Wandels. Und während sie all das für mich war, ist sie trotzdem vor allem anderem real, ein Schrecken in der Nacht und ein Mädchen, das zur richtigen Zeit am falschen Ort war und von der Veränderung erfaßt und mitgeschleift wurde. Kein Wunder, daß sie und ich uns als verwandte Seelen fühlen, weit über das hinaus was der Vertrag von Lyy von einer Streunerin und einem Schattenwesen verlangt.
Nein, "merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
***
Am ersten Tag des Herrschenden Sommers im Jahre 541 hatte der Krieg geendet. Der geschäftsführende Präsident Lerantars und die Ratsälteste der Tayru hatten den Friedensvertrag unterzeichnet, und die letzten der elerantar Truppen waren heimgekehrt in ihr Land, das durch ihre Abwesenheit so verheert war wie das unsere durch ihre Anwesenheit. Wir hatten versucht, das Land, das wir durch den Krieg hindurch zusammengehalten hatten, auch im Frieden zu bewahren, aber wir waren müde und rastlos geworden und ohne Geduld, und schließlich verließ ich Cayt, verließ die Ruinen und wanderte auf verschlungenen Wegen nach Süden, rastlos, auf der Suche nach etwas Anderem, einem neuen Ziel, einer neuen Zeit.
Im Sommer 542 erreichte ich das Daga-Delta, mit seinen Salzmarschen und den Schwärmen von Vögeln, die die Sonne verdunkeln. Ich folgte der Küste nach Osten, nach Ennadria hinein, während der Sommer fortschritt. Meine Freunde wurden zu Schatten in meinen Gedanken, die die Sonne warf. Es war Chières Stimme, die am klarsten war in meiner Erinnerung, Chière, die aus dem Krieg davongelaufen war wie ich jetzt aus dem Frieden: Die Sonne und die trockene Hitze, sagte Chière, sie schmelzen die Vergangenheit aus dir heraus, sie verbrennen die Gedanken und Erinnerungen, füllen die leeren Räume mit Glut und Gegenwart, sie binden sich ein in das hitzeflirrende Land, und so heilen sie ein Herz, das durch die Kälte und den Wind, die du so schätzt, Tanien, weil sie Klarheit schaffen und dich ganz und gar zu dir selber machen, nicht mehr geheilt werden kann.
Chière war klug und sonderbar geworden in den Jahren ihrer Wanderschaft, war eine von uns geworden, eine Saejie, eine ohne-Zeit. Ich fragte mich, ob sie zu beglückwünschen war oder zu bedauern, aber es spielte natürlich keine Rolle: Was immer sie, oder ich, oder irgend jemand anders davon hielt, würde nicht ändern, was war. Die Welt ist immer stärker als wir.
Der Sommer verging und der Winter brachte Regen. Gegen Ende des Winters ließ ich mich mit einem Mann ein, der wie ich von nirgendwo kam und nach irgendwo wollte. Ich war einsam, aber ich war nicht mehr so müde, wie ich gewesen war, und wollte auf andere Gedanken kommen. Wir reisten ein paar Wochen zusammen, bis der Frühling kam und er sich in einer Schenke eine dunkelhäutige Schönheit anlachte. Am nächsten Morgen war er weg. Ebenso das Mädchen, mein Geld und mein Mantel. Die Welt mochte sich ändern, mochte von einem Zeitalter in ein anderes fallen während wir nicht hinsahen, aber die Menschen änderten sich nicht. Ich wußte nicht, ob ich das beruhigend finden sollte, und da er mich mit der Zeche und ohne Geld hatte sitzen lassen, nahm ich das erste Schiff, das aus dem felsumsäumten Hafen der kleinen Stadt auslief.
Es war das Postschiff, ein träger, dampfender Pott, dessen altersschwache Maschine erratisch arbeitete, gelegentlich Funken und öligen Rauch spie und, sagte der Kapitän, schon drei Maschinisten in die Trunksucht getrieben hatte. Ich überholte die Maschine und wurde selber schwarz von Rauch und Öl, während wir zwischen den Inseln der Ennadrischen See umherfuhren. Säcke mit Post und Kisten mit Fracht und gelegentliche Passagiere kamen und gingen. Die Inseln waren Brocken von Fels, schwarzes Gestein im Blau des Ozeans, schwarze Strände, und Berge, bepelzt mit grüngoldenem Buschwerk. So früh im Jahr hatte die Dürrezeit noch nicht eingesetzt, und Wasserfälle blinkten in den Hängen. Dörfer drängten sich um Buchten voller bunter Fischerboote, und hier und da rosteten die Türme und Kamine alter Industrieanlagen und Funkstationen gegen den Himmel. Die Männer trugen bunt bestickte Jacken und die Frauen schwarze Kleider als seien sie alle Gelehrte. Aus Frühling wurde Sommer.
Ich verließ das Postschiff, weil mir die Enge, der Lärm und der Gestank im Maschinenraum von Tag zu Tag mehr wie ein Vergehen erschien gegen die blaue Weite von Himmel und Meer. Der Kapitän setzte mich auf einer winzigen Insel ab, mit dem Lohn für zwei Oktale. Die Häuser entlang des Hafens waren bunt bemalt. Frauen nahmen Fische aus, belagert von Katzen. Aus dem sechseckigen Steinbau der Kirche schlug der Mittagsgong, und die Straße wurde still in der Tageshitze. Ich setzte mich in den Schatten eines Baumes und sah Atemzügen der Meeres zu. Türkise Wellen brachen zu Regenbögen von Gischt an der Außenseite der Hafenmauer. Später nahm ich eines der zwei Zimmer im einzigen Gasthaus des Ortes, badete und wusch mir das Öl und den Gestank aus Haaren, Haut und Kleidern, dann ging ich die Insel erkunden.
Ich kannte Ennadrien nicht, kannte die Inseln nicht, vergaß meine Vorsicht. Dies war ein Land fern von meinen verlorenen Kämpfen, und ich glaubte nicht, daß es mich verletzen konnte.
Auf dem gepflasterten Platz stand ein junges Mädchen, fünfzehn oder sechzehn, und umklammerte einen Korb. Drei Jungen umringten sie und riefen etwas, das ich nicht verstand. "Laßt mich in Ruhe!", rief das Mädchen, ein sauberer, altertümlicher Akzent, Oberschicht vielleicht, oder Zugereiste. Ich warf dem Anführer der Jungen einen finsteren Blick zu und erklärte ihm in Etayru, daß er sich zum Kuckuck scheren könne. Etayru klingt grimmig für Leute, die 'Nenadriu oder Elaqua gewöhnt sind. Die Abendsonne warf meinen Schatten lang vor mir auf die Straße. Die Jungen rannten.
Am nächsten Tag wanderte ich an der Küste entlang, stieg über Klippen und durch Buschwerk und lief über schwarze Strände. Ein Turm, eine alte Festung zur Beobachtung der See oder vielleicht zur Verteidigung gegen Piraten, überblickte die einsame Küste.
In einer der Buchten ragten auf eisernen, seetangbepelzten Beinen Ruinen aus dem Wasser. Ich schwamm hinüber, neugierig, erforschte Räume und Stege aus bröckelndem Gestein und nahezu durchgerostetem Metall, schlug mir die Knie auf und fand nur Muscheln und Seetang und kleine Krebse, die davonhuschten, wenn sie meine Schritte spürten, keine Schätze oder Geheimnisse, und ich begann, über das nachzudenken, was wir verloren hatten.
Am Abend wechselten die Tiden und die Flut rollte herein. Der Wind blies kalt dem Land zu, und die alten Anlage klagte wie der Geist einer toten Zeit. Ich nutzte die auflaufende Flut, um zurück an Land zu schwimmen. Der fast volle Mond stand schon am Himmel, die Kleine Schwester neben sich, als ich den Strand hinaufkam und entdeckte, daß eine Gruppe Halbstarker aus dem Dorf sich an meinem Klamotten und meinem Geld vergriffen. Nicht zweimal in einem halben Jahr, dachte ich ärgerlich. Meine Muskeln waren müde vom Schwimmen und mein 'Nenadriu immer noch lückenhaft, und ohne darüber nachzudenken, griff ich vorsichtig ins Netz, um einen Trick oder zwei bereit zu haben, ob ich nun verschwinden, sie verjagen, oder mich mit ihnen schlagen wollte. Hätte ich nachgedacht, ich hätte gewußt wie unwahrscheinlich es war, zweitausend Kilometer von Tayrear und zwei Jahre nach dem Ende des Krieges etwas Brauchbares aus dem Netz zu bekommen. Chière war zurückgekommen, aber gewiß hatte sie jetzt, im Frieden, besseres zu tun, als das Netz am Leben zu halten.
Doch statt des müden Tröpfelns, das ich halb erwartet hatte, statt des vertrauten, stetigen Flusses von Energie und Wissen, auf den ich gehofft hatte, traf mich die Netzenergie wie ein Frühlingsschauer in Imhaie, abrupt und kalt und bittersüß wie Heimweh. Licht flammte über den Strand, Schlagschatten der Felsbrocken, und die Gesichter der Jungen grünlich und blutlos wie die von Wasserleichen. Sie ließen alles fallen und rannten um das liebe Leben. Ich versuchte, mich aus dem Netz zu schnippen -- der einfachste Trick im Buch, und ich hatte das Buch geschrieben -- aber das Netz wollte mich nicht gehen lassen, es wickelte sich um mich als sei sein Name mehr als nur Metapher, lebendig und zäh wie alte Wurzeln, wollte etwas von mir in einer Sprache, die ich nicht verstand, bis ich schließlich, der Panik nicht fern, meine Hände in den Himmel streckte als wollte ich mich ergeben, und die Energie erdete, sie an mir herunter in den schwarzen Sand laufen ließ.
Erst viel später erfuhr ich, was passiert war. Und Jahrzehnte vergingen, bis ich es verstand. Damals erschien es nicht mehr als eine Erinnerung an die Warnungen, die wir als Kinder gehört hatten, in einer anderen Zeit, mit einem anderen Namen: "Spiel nicht in den Ruinen, Janizhe, sie sind gefährlich".
Ich befreite mich von den Ruinen des Netzes und sank in den Sand, der kalt geworden war vom Abendwind. Das Meer rauschte, esae, ohne-Zeit. Ich war erschöpft und fror und vor meinen Augen tanzten grünblaue Schemen. Der Mond stand im Zenit, als ich mich endlich aufrappelte, mich anzog und auf den Weg zurück zum Dorf machte.
*
Wären sie acht Mann hoch vor mir aus dem Gebüsch gesprungen, ich wäre entkommen. Aber es waren nur zwei, die auf der Straße vor dem Gasthaus auf mich zukamen, und sie sprachen mich an, mit ruhigen Stimmen und in einem Dialekt, von dem ich nur jedes zweite Wort verstand, also blieb ich stehen und versuchte zu verstehen, was sie von mir wollten. Dann rief jemand eine Warnung und ich wich nach vorne aus, schlug einem der Männer den Ellenbogen in den Magen, als hinter mir ein Gewehrkolben die Hauswand traf, wo eben noch mein Kopf gewesen war. Ich fliehe immer nach vorne.
Nicht schnell genug, dieses Mal, und vielleicht verwirrten mich die Schatten in meinem Kopf, und vielleicht machte die Erschöpfung mich langsam, aber vielleicht waren sie auch nur in der Überzahl und schneller, und besser bewaffnet. Ich wagte nicht, nach den Netzfäden zu greifen, und als einer der Männer ein Gewehr auf mich richtete und etwas rief, das selbst mein mangelhaftes 'Nenadriu als "Stehenbleiben oder ich schieße!" interpretieren konnte, tat ich das und hob die Hände. Ein Schlag traf mich in der Seite, und ich spürte die Rippen brechen, und die Erinnerung an Orsan rollte über mich, bitter wie das Meer, und tiefer, eine immense Frustration und Müdigkeit an der Welt, an meinem Leben, an den Menschen, an allem, was mich immer wieder in Idioten laufen ließ, die ihre Dummheit an mir auslassen wollten. Die Welt zeigte mir, wie unwichtig ich und all mein Stolz und meine Hoffnung ihr waren, und ich mußte lachen über meinen Hochmut, in schmerzhaften, bellenden Stößen, bis ich in den bitteren Wogen unterging.
*
Einer der größten Vorteile, die es mit sich bringt, eine fünfhundertfünfzig Jahre alte Saejie zu sein, ist es, daß man Verletzungen, die einen normalen Menschen umbringen würden, ohne bleibende Schäden überlebt. In manchen Situationen scheint das auch der größte Nachteil zu sein, und der Moment, in dem ich wieder zu mir kam, war eine davon. Mein Kopf fühlte sich an wie ein überreifer Kürbis, in dem eine Baßtrommel schlug. Jeder Atemzug war, als drehe jemand ein Messer in meiner Seite, und mir war fürchterlich übel. Der Gedanke daran, wie es sich anfühlen würde, wenn sich mir jetzt der Magen umdrehte versetzte mich in Panik, und ich gab den Versuch auf, die Augen zu öffnen oder mich zu bewegen. Statt dessen konzentrierte ich mich darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen. Und dann bemerkte ich den Gestank.
Der Gestank von Schlachtfeldern und Leichenhallen, von engen Räumen, wo die Vergessenen unbemerkt gestorben waren und nicht vermißt worden, bis schließlich die Nachbarn, empört über den Geruch, die Hausmeisterin holten. Die die Tür öffnete und sich mit einem Blick dahinter wünschte, lieber Tennislehrerin geworden zu sein... der gleiche Gestank, aber jetzt war er näher, und stärker. Ich hörte Fliegen summen.
Ich schickte meine Gedanken weit fort von mir, nach Norden, zu der eisigen Küste Kandriens in klaren Winternächten, wo der Wind so kalt ist wie die Sterne. Ich machte mich ganz und gar zu mir selber, verstand, daß mein Herz schlug, daß mein Blut da floß, wo es hingehörte (drinnen), daß die Luft, die ich atmete, nirgendwo hinging, wo sie nicht sollte, daß alle Teile von mir anwesend waren. Dann erst hob ich die Hand und rieb mir vorsichtig das getrocknete Blut aus dem rechten Auge (mit dem linken wollte ich mein Glück noch nicht versuchen) und, in meinem Kopf nur Nacht und Wind und Sterne, lugte ich durch den Spalt, der sich auftat.
Ich war von Toten umringt. Ich versuchte, sie zu zählen und bei zwanzig gab ich auf, weil ich nicht mehr sicher war, und weil selbst der Eiswind in meinen Gedanken mich nicht vor ihnen schützen konnte, schwarze, hohläugige Mumien und grau-gelbe Knochen, und andere, die erst seit Wochen tot zu sein schienen. Das Summen der Fliegen war ohrenbetäubend. Im grauen Morgenlicht, das durch ein Loch in der Decke sickerte, sah ich, daß der Raum rund war, die Wände grauer Beton, gefleckt von Feuchtigkeit und Schimmel: Die unterste Ebene der alten Festung. In einer Wand war eine schwere Stahltür, frei von Rost und stark genug, um Granatbeschuß zu widerstehen, überzogen mit einer Patina, in der Steine und Fingernägel und Verzweiflung schwache Kratzer hinterlassen hatten, durch die das blanke Metall schien. Wie viele hatten noch gelebt hier unten? fragte ich mich. Aber diese Tür war kein Weg nach draußen. Der einzige Weg war das Loch in der Decke, hoffnungslose drei Meter über mir.
Hatte der Postschiffkapitän gewußt, daß dies ein Räuberloch war, eine Pirateninsel? Ich wußte es nicht, und es spielte keine Rolle, ob ich mich verraten fühlte. Das einzige, was eine Rolle spielte, war, zu überleben. An einer Stelle sickerte Wasser durch einen Riß in der Betonwand. Ich opferte mein halbes letztes Hemd, um das Wasser aufzusaugen, bis ich ein paar Tropfen herauswringen konnte. Das Wasser schmeckte nach Beton und Moder. Als ich keine Kraft mehr hatte, weiterzumachen, suchte ich mir einen Platz, den keiner der Toten beanspruchte, und ließ meinen Geist auf den sattgrünen Wiesen des Nordens wandern und durch die gepflasterten Straßen Cayts, der Regenstadt, während mein Körper stur sein Bestes tat um sich zu regenerieren.
In der Nacht wachte ich auf, weil ich glaubte, Stimmen gehört zu haben. Der Raum schien davon widerzuhallen. Die Toten flüsterten von Rache. Ich kauerte mich gegen die Wand und wartete auf den Morgen.
Am nächsten Tag kam der Hunger. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich möglichst abstrakt darüber nachdachte, wie lange das, was hier vorging, schon vor sich ging, wie viele davon wußten, und aus welchen merkwürdigen Motiven diese Räuber die Leichen ihrer Opfer in einer alten Festung versteckten, statt sie ins Meer zu werfen. Vielleicht fürchteten sie, daß das Meer die Beweise ihrer Untaten an die Küsten ihrer Nachbarn spülen würde, oder sie hatten einst damit angefangen, Gefangene zu nehmen und Lösegeld zu verlangen, bis sie feststellten, daß der Preis für ein Leben in diesen Zeiten zu gering war, und Lösegeldübergaben schwer zu bewerkstelligen? Dann dachte ich über das Entkommen nach. Aber mit meinen kaputten Rippen und meinem nahezu unbeweglichen rechten Arm hätte ich kaum einen Meter überwinden können, geschweige denn drei, und selbst wenn das Netz so freundlich und kooperativ gewesen wäre wie Talo und Narani es je gewebt hatten, wäre mein Kopf noch zu wirr gewesen, um es zu greifen.
Die zweite Nacht kam und ging. Ich hörte die Wände schreien, und das aus dem Spalt sickernde Wasser verwandelte sich in der Dunkelheit in Blut. Die Züge eines der Toten waren noch erkennbar, ein junger Mann aus Apaidámeë oder vielleicht Xirde. Er sprach über die See, über Blut und Rache. Die Nacht dauerte ewig, länger als die Mittwinternacht in Sohiva, und nur für kurze Zeit wanderte ein müder Flecken Mondlicht über den Boden. Ich war versucht, aufzustehen und den Flecken einzufangen, um in das Gesicht des Mondes hinaufzusehen, aber ich war zu müde und wollte die Toten nicht auf mich aufmerksam machen.
Am dritten Tag konnte ich meinen rechten Arm wieder ein bißchen bewegen und aus beiden Augen sehen, wenn auch verschwommen. Ich fragte mich, ob es hier Ratten gab und ob ich vielleicht eine fangen konnte. Ich fragte mich, wie lange es dauerte, bis man vor Hunger wahnsinnig wurde, und entschied, daß das keine Rolle spielte. Nur die Nächte beunruhigten mich. Ich hoffte, daß die Toten nicht auf die Idee kämen, mich für ihre Misere verantwortlich zu machen. Dann fragte ich mich, ob der Gedanke verrückt war, und ehe mich die Frage verrückt machen konnte, schickte ich mein Denken zurück nach Norden, nach Cayt. Chière war in Cayt. Chière war wiedergekommen. Wir kommen immer wieder, hatte Elorie gesagt.
Draußen fiel die Dämmerung, und ich wünschte, die Sonne festhalten zu können, als ich oben eine Bewegung hörte, und dann Stimmen. Männerstimmen, einer sagte etwas von "Verschwendung", und ein anderer wollte schnell fort, ehe die Nacht kam. Etwas bewegte sich vor dem Loch und ein Körper flog herunter, landete auf dem jungen Seefahrer aus Apaidámeë und rutschte ein wenig auf mich zu. Ich rappelte mich auf, so gut es mir möglich war, ich hoffte, ich betete zu Kadanésta, dem Schutzpatron der hoffnungslosen Fälle, daß der Neue noch nicht ganz tot war, noch gerettet werden konnte, denn zu zweit, so weit hatten mich meine Überlegungen schon gebracht, würde es möglich sein, zu entkommen. Oder vielleicht nicht: Oben klappte eine Tür und ein Riegel wurde vorgeschoben.
Es war eine junge Frau, ein Mädchen, und sie lebte noch, ein schwacher, flatternder Puls an ihrem Hals. Sie war schlimmer zugerichtet als ich je gewesen war, aber sie mußte einmal hübsch gewesen sein. Ich glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben. Und als das schwindende Licht den Keller der Toten in bleigrauen Schatten versinken ließ, wußte ich, wo. Sie war das Mädchen auf dem Marktplatz gewesen, und sie starb, ehe der Mond aufging.
Meine Freunde sagen, daß ich nie zornig werde, daß Wut nur eine Pose ist, in die ich mich werfe, wenn es mir angemessen erscheint. Sie spotten, daß ich nie verzeihe, aber nichts übelnehme, während Leute, die nicht genug Format haben, um meine Feinde zu sein, mir vorwerfen, es fehle mir an Eifer, an Leidenschaft, an gerechtem Zorn. Und es ist wahr, daß ich nie ein Feuer im Schrein der Jorikártis entzündet habe und nie Blutfehde geschworen, und es ist wahr, daß ich sehr selten zornig werde. Aber jetzt fiel mich Jorikártis' flammenfarbener Tiger an, die Stimmen der Toten hallten in meinen Ohren, und ich verfluchte diesen Ort, ich verfluchte das Dorf und die Insel und alle ihre Bewohner, all das herzlose und grausame und gierige Pack, das nicht nur dahergelaufene Fremde zu ihren Opfern machte -- das konnte ich noch verstehen -- sondern auch ihre eigenen Töchter.
Der Fluch einer Hexe, sagte man heute, ruft Geister herbei, Dämonen, die ihre Worte hören, die ihre Rache ausführen, wenn sie ihren Preis zahlt. Damals wußten wir nichts davon. Meine Flüche erfüllten sich nicht öfter als die anderer Leute. Aber an diesem Abend, als das Mondlicht in den Keller sickerte, hörte ich, wie die Toten mir antworteten.
Es war die Nacht des Vollmonds, die Nacht, wo im zweitausend Kilometer entfernten Cayt Chière und Monika und Lagan etwas Unmögliches versuchten, um die Netzenergie, die chaotisch geworden war in den Jahren der Vernachlässigung und gefährlich für jeden, der versuchte, mit ihr zu arbeiten, in ein neues Muster zu zwingen, in eine neue Realität. Ich glaubte nicht an Götter und Geister, ich erinnere mich an die Zeit, wo unsere Mythen noch nicht einmal Legenden waren, sondern lediglich Anekdoten, wo Jorikártis eine Vigilantin war und Kadanésta ein erfolgreicher Anwalt, aber in dieser Nacht änderte sich unsere Welt für immer, und was ich glaubte oder wußte spielte keine Rolle mehr.
Jorikártis Tiger verschwand wie Rauch im Wind, nachdem er mit mir fertig war. Die Nacht umgab alle Dinge mit klaren, silbernen Linien. Die Toten schwiegen, zufrieden. Das Mädchen schlug die Augen auf, und einen Moment lang spürte ich das Echo eines fremden, mächtigen, neu geborenen Geistes, Jorikártis' Atem auf uns. Ich sah die Form des Geistes, sein Leben im Tode und seinen Hunger nach Blut, und ich gab ihm einen Namen aus den Legenden, ohne darüber nachzudenken, und dann begriff ich, daß ich in größeren Schwierigkeiten war als zuvor. Denn jetzt war ich zusammen mit einem jungen Vampir in einem geschlossenen Raum. Und der Vampir würde hungrig sein, wenn sie erwachte.
Als Kind hatte ich Alpträume dieser Art, in denen ich mit einer Bestie mit glühenden Augen in einem Raum gefangen war und wußte, daß die Bestie jetzt noch satt war -- doch sie würde hungrig werden. Die Tür zu öffnen und hinauszugehen hieße, die Bestie auf die Welt loszulassen, und das durfte nicht geschehen, es durfte nicht meine Schuld sein, daß ein solches Wesen frei war. So war ich, in meinen Alpträumen, geblieben, unfähig, der Furcht Herr zu werden und wissend, daß Furcht die Bestie zum Angriff reizt, bis ich erwachte, schweißgebadet und mit hämmerndem Herzen, zu voller Schrecken, um zu schreien, und wagte nicht mehr, die Augen zu schließen, bis der Morgen kam.
Aber dieses war wirklich. Und ich war keine fünfzehn. Ich war fünfhundertfünfzig, und mein Vertrauen in meine eigene Stärke sowie in die Fähigkeit der Welt, mit dem einen oder anderen Ungeheuer zu leben, hatte wesentlich zugenommen. Ich würde mich nicht fürchten, entschied ich. Denn was immer hier geschah, war etwas Neues: Unmöglich, undenkbar, unerklärlich, real.
Das Mädchen sah sich verwirrt um und setzte sich auf. Die Bewegung wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise kein bißchen menschlich, aber ihre Stimme klang um so menschlicher, als sie voller Verwunderung sagte, "Es tut nicht mehr weh." Ein sauberer, altertümlicher Akzent, und jetzt erkannte ich auch die Stimme. Sie hatte mich vor den Leuten gewarnt, die mich überfallen hatten -- wenn auch zu spät.
"Nein", sagte ich, nur um etwas zu sagen. Wenn man tot war, hatte man wohl ein Anrecht darauf, daß nichts mehr weh tat.
Sie sah mich geistesabwesend an, noch verloren in was immer in ihrem Kopf vorging. "Ich spüre gar nichts." Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie Schlaf oder Unentschlossenheit vertreiben und richtete dann ihren Blick auf mich. Ihre Pupillen füllten fast ihre ganze Iris, und ich erkannte, daß sie Beute sah. Ich überschlug schnell meine Chancen, wenn ich sie jetzt angriff, und kam zu dem Ergebnis, daß ich einen Kampf mit etwas, das ich nicht verstand, wahrscheinlich verlieren würde.
"Was... wer bist du?" fragte sie zögernd.
Ich fragte mich, wie menschlich ich noch aussah. "Tanien", sagte ich. Meine Stimme klang, als sei ich selber ein Geist.
Die Vampirin glitt auf mich zu wie ein Bild in einem bewegten Spiegel. Ein Fleck von Mondlicht streifte ihre Züge. Ihr Gesicht war immer noch voller Schmutz, und getrocknetem Blut und hellen Streifen von Tränen, aber die Verletzungen waren verschwunden, und unter dem Dreck war ihre Haut glatt und makellos. Ihre Zähne waren spitz und weiß. Ich schauderte unwillkürlich, sah ihre Augen mir folgen wie die einer lauernden Katze, und brachte meine Kindheitsalpträume schleunigst unter Kontrolle.
"Was ist geschehen?" fragte sie. "Ich dachte, ich wäre tot... ich wollte sterben... aber es scheint so gleichgültig, jetzt."
Wie sag ich's meinem Kinde? Sinnlos, um den heißen Brei herumzureden. "Du warst tot", sagte ich.
"Ich ... Ja. Ich weiß. Ich..." Sie wollte weinen, aber sie konnte es nicht. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und wirkte so verzweifelt, daß ich ihr Kakao und Kekse angeboten hätte, hätte ich welche gehabt.
Schließlich sah sie auf und sagte mit einer erzwungenen Ruhe, die meiner sehr ähnlich war: "Ich bin gestorben. Ich bin tot. Ich atme nicht. Mein Herz schlägt nicht. Trotzdem denke ich und spreche. Ich fühle nichts. Aber ich spüre Hunger, und Kälte, Tanien. Und ich spüre dein Leben, ich höre dein Herz schlagen, und ich rieche dein Blut. Und ich will es, ich brauche es, mehr als ich jemals zuvor etwas gebraucht habe. Wir haben Legenden über solche Wesen, über Tote, die umhergehen und das Blut der Lebenden trinken, Wiedergänger. Das ist es, was ich bin. Ich habe nicht mehr an die Legenden geglaubt, seit ich zehn Jahre alt war... Du solltest dich fürchten, du solltest zittern vor Furcht..." Ihre Ruhe brach wie ihre Stimme und sie wandte sich ab. "Mutter des Lichts, hilf mir!"
Die Mutter des Lichts antwortete nicht, aber die Alte Nacht war mit mir: Was immer mit dem Mädchen passiert war, ihre menschlichen Gedanken und Skrupel hatte sie nicht verloren.
"Warum fürchtest du dich nicht?" fragte sie, als sie wieder aufsah und mich nicht schlotternd in einer Ecke wiederfand. "Ich würde -- ich hätte mich zu Tode gefürchtet, wenn ich einem Wiedergänger begegnet wäre. Ich hatte Alpträume davon."
Ich auch, dachte ich. Und du hattest, anders als ich, nicht den Trost, daß es keine Wiedergänger gibt. "Ich bin sehr alt", sagte ich. "Und ich habe Dinge gesehen, die viel furchterregender waren als du." Ich hoffte, daß sie nicht stolz war und sich berufen fühlte, zu beweisen, wie furchterregend sie sein konnte, aber es schien mir sinnvoll, das Ausmaß an Drama in der Situation ein wenig zu reduzieren.
Sie musterte meine ausgesprochen abgerissene Gestalt. "Du siehst nicht alt aus."
Ich schnaubte. "Wenn ich so alt aussehen würde, wie ich bin, sähe ich älter aus als der Knochenmann da drüben." Ich winkte vage in die Richtung des ausgeblichensten Gerippes. "Ich bin..." Saejie. Zeitlos. Was war das 'Nenadriu Wort dafür? Ich wußte es nicht. "Ich bin eine Hexe", sagte ich statt dessen. Das 'Nenadriu-Wort für "Hexe" hieß auch "Wahrsagerin".
"Was?" Sie sah mich hoffnungsvoll an. "Weißt du Rat?"
Ich schüttelte den Kopf. ";Noch nicht." Ich arbeite dran, dachte ich, und hoffte, daß ich Recht hatte.
Sie sackte zusammen und kämpfte um ihre Fassung. "Ich will so nicht sein! Ich will nicht töten -- nicht dich, jedenfalls, und, und nicht so! Aber ich bin hungrig und es wird immer schlimmer. Und ich, ich halte das nicht mehr lange aus."
"Mußt du töten?", fragte ich.
"Ich brauche Blut!", sagte sie verzweifelt.
"Ja. Aber ein Mensch hat fünf bis sechs Liter Blut. Das ist eine ganze Menge. Ein gesunder Mensch kann einen halben Liter Blut verlieren ohne Schaden zu nehmen. Wieviel brauchst du?"
"Ich weiß es nicht..."
"Denk nach!" sagte ich scharf, dachte an das Netz, das manchmal Informationen gehabt zu haben schien, die niemand hineingefüttert hatte, dachte an die flüsternden Toten, dachte an Jorikártis' Atem. Dachte an Gelegenheiten. Kadanésta lachte gewiß über mich, hier war ich mit einer zweiten lebenden, nein, aktiven Person, mit der Möglichkeit, zu entkommen, aber erst mußte ich, schien es, meiner potentiellen Helferin entkommen... aber ohne sie käme ich hier nie heraus, ein zweites Wunder wäre viel zu viel verlangt. Wenn jeder Weg bis auf einen ins sichere Verderben führt, nimmt man den einen, wie gefährlich er auch sein mag.
Als sie wieder sprach, hatte ich meinen Entschluß gefaßt.
"Ich kann es", sagte sie. "Ich glaube nicht, daß ich viel brauche. Ein paar Schlucke nur. Aber es wird nicht einfach sein."
Ich hatte nicht damit gerechnet, daß es einfach sein würde, aber ihre nächsten Worte überraschten mich.
"Nicht einfach für dich, meine ich. Ich glaube... ich sehe mich im Bild deiner Gedanken, und wenn du nicht schon wüßtest, was ich bin, ich könnte dir eine Illusion vorspiegeln, daß ich etwas anderes wäre, so daß du dich nicht fürchtest... aber ich kann nicht nehmen, was du bereits weißt. Du kannst nichts anderes in mir sehen als, als ein Monster, und du wirst du dich fürchten, und ich..." Sie schüttelte den Kopf. "Bitte", sagte sie. "Ich will das nicht tun. Du bist eine Hexe. Töte... nein, zerstöre, vernichte mich. Ich will diese Existenz nicht. Es tut mir leid."
"Kommt überhaupt nicht in Frage", sagte ich.
Sie sah nicht einmal auf.
"Wie heißt du?" fragte ich.
"Die Toten haben keinen Namen."
"Alles, was spricht, sollte einen Namen haben. Sonst muß man es 'hey, du da' nennen, und das wird verwirrend, wenn man mehr als einen von der Sorte hat."
Der Laut, den sie ausstieß, hätte in besseren Zeiten ein Lachen sein können. "Mein Name ist gestorben. Ich kann ihn nicht mehr tragen."
"Dann gib' dir einen anderen."
"So einfach?" fragte sie.
"Einfach so", sagte ich, wie immer machtlos gegenüber der Versuchung, dumme Bemerkungen zu machen.
Sie schenkte meiner Bemerkung mehr Respekt, als diese verdiente, indem sie darüber nachdachte. Dann sagte sie, "Ich nenne mich Malenka."
Malenka. Die Kleine Schwester des Mondes. Ich nickte zufrieden. "Malenka. Ich habe überlegt, was wir tun können. Wir sollten zusehen, daß wir hier herauskommen. Kannst du die Tür da aufbrechen? Oder dich in--" (in was verwandelten sich Vampire in den Gruselgeschichten noch mal? Und gab es das auf unserer Welt?) "--in eine Fledermaus verwandeln und durch das Loch da flattern?"
Sie warf einen Blick auf die Stahltür, dann auf das Loch in der Decke. "Ich habe keine Ahnung, wie man sich in eine Fledermaus verwandelt. Ich könnte vielleicht durch das Loch kommen, aber dahinter ist noch eine Tür und ich bin zu schwach dafür... zu hungrig."
Schade. Es hätte alles so viel einfacher gemacht. Ich dachte über das nach, was ich als nächstes sagen wollte. Das Problem war, wenn Malenka mich aus diesem Keller befreien konnte, konnte sie sich leichter ohne mich befreien. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie der Geist sich angefühlt hatte. Ich fragte mich, was die Toten von den Lebenden wollten. Rache. Aber für Rache brauchte sie mich nicht. Und Rache ist ein Gericht, das keinen satt macht. Malenka wollte noch etwas anderes: Sie wollte nicht sein, was sie geworden war.
"Das habe ich gefürchtet. Zweitens, Malenka. Du hast gesagt, daß du diese Existenz nicht willst. War dir das ernst?"
Sie konnte kaum noch blasser werden, aber in ihrem Gesicht malte sich sehr menschliches Erschrecken. "Kannst du ...mich wieder zu dem machen, was ich war?"
"Du warst tot", sagte ich. "Ich kann dich nicht wieder lebendig machen."
"Ich weiß", sagte sie. "Aber kannst du mich töten?"
"Warum willst du das?" fragte ich.
"Weil ich ein Ungeheuer bin, eine Ausgeburt der Finsternis! Mich darf es nach den Gesetzen der Welt und der Menschen nicht geben! Ich muß doch... wenn ich mich nicht ganz dem Bösen ergeben will, muß ich doch ein Ende meiner Existenz anstreben!"
"Willst du das?" fragte ich wieder. Ich mußte verstehen, wie sie dachte. Wer sie war. Wer sie glaubte, daß sie war.
"Nein... aber ich muß es doch! Sonst töte ich dich und, und..."
"Malenka, 'böse' ist nicht, was du bist, sondern was du tust. Oder nicht tust. Und, 'Ausgeburt der Finsternis'? Wir sind alle Kinder von Mutter Nacht."
"Der Priester sagt, daß nur der, der dem Pfad des Lichts folgt, seine Belohnung erhält..."
Das war die verquasteste Theologie, die ich je gehört hatte. "Und was für eine Belohnung", sagte ich, "erhalten die, Menschen totschlagen und ausrauben? Welche Erkenntnis gewinnen sie für die Welt?"
Sie hielt inne. In ihren Augen flackerten Tigerflammen.
"Malenka", sagte ich. "Ich kann dich nicht töten. Aber wenn du es willst, werde ich einen Weg finden. Und ich kann dir etwas anderes geben. Ein paar Schlucke nur."
Sie fletschte die Zähne, leckte sich die Lippen und bewegte sich dennoch nicht. "Es wird nicht gehen. Du siehst mich. Du wirst dich fürchten."
Fürchtete ich mich? Ich wußte es selber nicht mehr. "Ich sehe dich, ja. Und ich sehe nichts, was mir Angst macht."
"Ich kann dir nichts versprechen."
"Ich erwarte nichts."
"Du weißt nicht, was du tust!"
Der Versuch, zu lachen, trieb mir Tränen in die Augen. "Welche Rolle spielt das? Ich weiß, daß ich aus dieser Gruft heraus will. Und von all den Toten hier bist du die einzige, die mir helfen kann. Was brauche ich mehr zu wissen als das?"
"Warum vertraust du mir?"
Ich tat es nicht. Ich fand keinen Optimismus mehr in mir, und keinen hellen Gedanken. Selbst der Mond hatte uns verlassen und in dem diffusen indirekten Licht schienen nur noch Malenkas Augen und Zähne zu schimmern. Mutter Nacht war groß und still und allgegenwärtig. Vielleicht gab es wirklich nichts zu fürchten. "Warum nicht?" fragte ich. "Erstens, mir nützt es, wenn du existierst. Und dir nützt es, wenn ich lebe. Denn die Welt ist groß und die Nacht ist lang, und ich weiß, wie es ist, seine Heimat in der Welt der Menschen verloren zu haben. Ich werde da sein, in hundert Jahren oder in tausend, und mich nicht fürchten. Zweitens wirst du nicht weniger hungrig werden, und mir wird es nicht besser gehen, wenn wir länger hier unten sitzen. Und drittens..." Ich gab der automatischen Sympathie nach, die ich für jeden fühle, der Mutter Nachts Humor zum Opfer fällt, und meiner Freude am Unbekannten, "Drittens will ich, daß du existierst. Denn wir leben zu lange schon in Ruinen, und du bist etwas Neues."
Trotz meiner Rede schloß ich die Augen vor Malenkas Blick. "Warn' mich bitte vor", sagte ich.
Eine kalte Hand berührte meinen Hals und jagte Schauder über meinen Rücken. "Was ist das?" fragte sie. "Diese Ader?"
Ich spürte das Pochen unter ihren Fingern und zwang meinen Verstand, sich mit praktischen Dingen zu befassen. "Halsschlagader", sagte ich. "Die sicherste Methode, einen Menschen innerhalb von Sekunden zu töten. Außerdem gibt es eine Riesensauerei." Erinnere dich an Anatomiestunden und Erste-Hilfe-Kurse, befahl ich mir. Bei Pferden entnahm man Blut aus der Drosselvene. Bei Menschen aus der Armvene. In diesem Moment hätte ich viel darum gegeben, zu wissen, warum das so war. Mein rechter Arm war immer noch außer Gefecht, den linken jetzt auch noch zu riskieren erschien mir etwa so ungünstig wie mit großen Blutgefäßen am Hals herumzuexperimentieren. "Warte", sagte ich. Mein rechtes Handgelenk hatte immerhin einen ordentlichen Puls. Ich legte meine Hand über ihre und führte sie den rechten Arm hinunter bis zur Ellbogenbeuge, und zur Innenseite des Unterarms, der insgesamt am wenigsten abbekommen hatte. Ich wünschte, ich hätte etwas sehen können. "Hier ist eine große Vene dicht unter der Haut", sagte ich.
Ihr Finger folgte einer Linie, die ich nicht sehen konnte, die sich aber richtig anfühlte. Mein Arm reagierte auf die Berührung mit der Mitteilung, daß es ihm nicht gut ging und er in Ruhe gelassen werden wollte, bitteschön. Ich biß unwillkürlich die Zähne zusammen. Das würde ziemlich wehtun. Aber wenn ich hier herauswollte, wenn all das wahr war, was ich Malenka gesagt hatte, gab es keine andere Möglichkeit.
Ich merkte, daß sie aufsah, und fragte mich, was sie gesehen oder gespürt hatte, und dann, so plötzlich wie ein Funke überspringt und ein Buschfeuer entfacht, fiel ihr Hunger mich an wie eine hohe, kalte Welle, die mich von den Füßen riß und in das schwarze Wasser hinauszog. Ich atmete langsam und gründlich aus, entspannte alle Muskeln, die ich konnte, und überließ mich der Strömung. Schließlich hatte ich es nicht anders gewollt, oder?
Sie muß an meinem Arm gezogen haben, denn der Schmerz in Schulter und Ellenbogen ließ das Schwarz um mich herum zu flackerndem Grau werden.
Ich spürte die Berührung, kühl und feucht, suchend, dann die Spitzen scharfer Zähne. Etwas, das wie ein Atemzug klang oder wie ein Schluchzer, ich wußte nicht ob meiner oder Malenkas. Ich wünschte, sie würde endlich tun, was sie tun wollte, was ich ihr erlaubt hatte, und kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht bohrten sich die Zähne durch meine Haut und weiter, und vielleicht schrie ich, aber ich war so weit von allem fort außer von dem Schmerz, der nicht aufhörte, das Suchen von Zähnen, in meinem Arm, alte Nacht, wie schwer konnte es denn sein, eine Ader zu finden? Dann ein Ende der Bewegung, und warme und kalte Nässe und ein saugendes und schmatzendes Geräusch, und ich blieb an dem fernen, stillen Ort wo ich in meinen Gedanken war, hörte mein eigenes krampfhaftes, schluchzendes Ausatmen wie das einer Fremden, der ich nicht helfen würde.
Der Schmerz ließ nach, und mit ihm mein Orientierungssinn, bis ich nicht mehr wußte wo oben war und wo unten und nichts mehr existierte bis auf ein seltsames, unvertrautes, ziehendes Gefühl in meinen Adern, und das vertrautere Pochen meines Herzens, lauter jetzt, schwer und schnell wie in einem Alptraum.
Jorikártis, dachte ich, du bist meinetwegen gekommen, du hast mich überlistet, und verleitet von den Augen eines Mädchens und einem Versprechen von Rache habe ich mich in deine Hände gegeben. Aber ich werde dir deine Beute nicht verweigern, für Tayrear und Kandrien und Lerantar, für all die Toten, für das Blut, das ich vergossen habe, für meinen jämmerlichen verlorenen Krieg, ein Kontinent in Trümmern und unsere Geschichte in Scherben: Ich habe versagt, fünfhundert Jahre lang. Ich wollte weinen und mußte lachen. Jorikártis, wenn dir je ein Opfer zustand, dann dieses, ich werde mich nicht mit dir streiten.
Ich meinte, Malenka etwas sagen zu hören und sagte, "Es ist in Ordnung, wirklich", Dann faltete ich wie eine gute Netzfrau die Fäden sorgfältig von mir weg und ineinander zurück, und erlaubte mir für einen Moment, zu wissen, wo ich war, und zu bemerken, daß mir nichts mehr wehtat, und das, dachte ich, ehe ich mich ohne großes Bedauern in eine andere Dunkelheit gleiten ließ, war ja schon mal was.
Weiter in Teil 2
Title: Malenka (1/2)
Author: the Lyorn
Language: German
Words: ca. 10,000
Setting: original
Rating: 12
Genre: Adventure, Drama, Horror
Summary: "Merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
Parts: [1/2], [2/2]
Anmerkungen: Diese Geschichte ist ein Teil von einem längeren Zyklus. Wahrscheinlich ist das nicht zu übersehen, ich hoffe aber, daß sie auch für sich alleine stehen kann. Eine ältere Version dieser Geschichte ist (im Moment noch) auf meiner Webseite.
Danke an Ceridwen, Snow,
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Kritik und Kommentare sind willkommen.

Malenka by Ingeborg Denner is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-Share Alike 3.0 Germany License.
MALENKA (1/2)
Zu sagen, daß meine Begegnung mit Malenka merkwürdig war, wird der Sache nicht gerecht. Ich traf sie im Jahr 543, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, zu einer Zeit, wo den meisten von uns noch nicht klar war, was wir verloren hatten: Daß die Zeit, die wir die unsere genannt hatten, die Zeit der Vernunft und der Gewißheit, unwiderruflich vorbei war, und alle unsere Versuche, sie zu halten, gescheitert.
Malenka war ein Wesen aus einer Spukgeschichte, wie Kinder sie sich am Lagerfeuer erzählt hatten vor fünfhundert Jahren, als ich jung war und wir, gelangweilt von Gewißheit und Sicherheit, beides nur zu gerne ausgetauscht hätten gegen Monster in den Schatten. Manche, denen ich heute diese Geschichte erzähle, sehen Malenka nur als eines dieser Monster, ein Symbol des Wandels. Und während sie all das für mich war, ist sie trotzdem vor allem anderem real, ein Schrecken in der Nacht und ein Mädchen, das zur richtigen Zeit am falschen Ort war und von der Veränderung erfaßt und mitgeschleift wurde. Kein Wunder, daß sie und ich uns als verwandte Seelen fühlen, weit über das hinaus was der Vertrag von Lyy von einer Streunerin und einem Schattenwesen verlangt.
Nein, "merkwürdig" ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und zweitausend Kilometer entfernt vom Zeitalter der Vernunft einem Vampir begegnet.
***
Am ersten Tag des Herrschenden Sommers im Jahre 541 hatte der Krieg geendet. Der geschäftsführende Präsident Lerantars und die Ratsälteste der Tayru hatten den Friedensvertrag unterzeichnet, und die letzten der elerantar Truppen waren heimgekehrt in ihr Land, das durch ihre Abwesenheit so verheert war wie das unsere durch ihre Anwesenheit. Wir hatten versucht, das Land, das wir durch den Krieg hindurch zusammengehalten hatten, auch im Frieden zu bewahren, aber wir waren müde und rastlos geworden und ohne Geduld, und schließlich verließ ich Cayt, verließ die Ruinen und wanderte auf verschlungenen Wegen nach Süden, rastlos, auf der Suche nach etwas Anderem, einem neuen Ziel, einer neuen Zeit.
Im Sommer 542 erreichte ich das Daga-Delta, mit seinen Salzmarschen und den Schwärmen von Vögeln, die die Sonne verdunkeln. Ich folgte der Küste nach Osten, nach Ennadria hinein, während der Sommer fortschritt. Meine Freunde wurden zu Schatten in meinen Gedanken, die die Sonne warf. Es war Chières Stimme, die am klarsten war in meiner Erinnerung, Chière, die aus dem Krieg davongelaufen war wie ich jetzt aus dem Frieden: Die Sonne und die trockene Hitze, sagte Chière, sie schmelzen die Vergangenheit aus dir heraus, sie verbrennen die Gedanken und Erinnerungen, füllen die leeren Räume mit Glut und Gegenwart, sie binden sich ein in das hitzeflirrende Land, und so heilen sie ein Herz, das durch die Kälte und den Wind, die du so schätzt, Tanien, weil sie Klarheit schaffen und dich ganz und gar zu dir selber machen, nicht mehr geheilt werden kann.
Chière war klug und sonderbar geworden in den Jahren ihrer Wanderschaft, war eine von uns geworden, eine Saejie, eine ohne-Zeit. Ich fragte mich, ob sie zu beglückwünschen war oder zu bedauern, aber es spielte natürlich keine Rolle: Was immer sie, oder ich, oder irgend jemand anders davon hielt, würde nicht ändern, was war. Die Welt ist immer stärker als wir.
Der Sommer verging und der Winter brachte Regen. Gegen Ende des Winters ließ ich mich mit einem Mann ein, der wie ich von nirgendwo kam und nach irgendwo wollte. Ich war einsam, aber ich war nicht mehr so müde, wie ich gewesen war, und wollte auf andere Gedanken kommen. Wir reisten ein paar Wochen zusammen, bis der Frühling kam und er sich in einer Schenke eine dunkelhäutige Schönheit anlachte. Am nächsten Morgen war er weg. Ebenso das Mädchen, mein Geld und mein Mantel. Die Welt mochte sich ändern, mochte von einem Zeitalter in ein anderes fallen während wir nicht hinsahen, aber die Menschen änderten sich nicht. Ich wußte nicht, ob ich das beruhigend finden sollte, und da er mich mit der Zeche und ohne Geld hatte sitzen lassen, nahm ich das erste Schiff, das aus dem felsumsäumten Hafen der kleinen Stadt auslief.
Es war das Postschiff, ein träger, dampfender Pott, dessen altersschwache Maschine erratisch arbeitete, gelegentlich Funken und öligen Rauch spie und, sagte der Kapitän, schon drei Maschinisten in die Trunksucht getrieben hatte. Ich überholte die Maschine und wurde selber schwarz von Rauch und Öl, während wir zwischen den Inseln der Ennadrischen See umherfuhren. Säcke mit Post und Kisten mit Fracht und gelegentliche Passagiere kamen und gingen. Die Inseln waren Brocken von Fels, schwarzes Gestein im Blau des Ozeans, schwarze Strände, und Berge, bepelzt mit grüngoldenem Buschwerk. So früh im Jahr hatte die Dürrezeit noch nicht eingesetzt, und Wasserfälle blinkten in den Hängen. Dörfer drängten sich um Buchten voller bunter Fischerboote, und hier und da rosteten die Türme und Kamine alter Industrieanlagen und Funkstationen gegen den Himmel. Die Männer trugen bunt bestickte Jacken und die Frauen schwarze Kleider als seien sie alle Gelehrte. Aus Frühling wurde Sommer.
Ich verließ das Postschiff, weil mir die Enge, der Lärm und der Gestank im Maschinenraum von Tag zu Tag mehr wie ein Vergehen erschien gegen die blaue Weite von Himmel und Meer. Der Kapitän setzte mich auf einer winzigen Insel ab, mit dem Lohn für zwei Oktale. Die Häuser entlang des Hafens waren bunt bemalt. Frauen nahmen Fische aus, belagert von Katzen. Aus dem sechseckigen Steinbau der Kirche schlug der Mittagsgong, und die Straße wurde still in der Tageshitze. Ich setzte mich in den Schatten eines Baumes und sah Atemzügen der Meeres zu. Türkise Wellen brachen zu Regenbögen von Gischt an der Außenseite der Hafenmauer. Später nahm ich eines der zwei Zimmer im einzigen Gasthaus des Ortes, badete und wusch mir das Öl und den Gestank aus Haaren, Haut und Kleidern, dann ging ich die Insel erkunden.
Ich kannte Ennadrien nicht, kannte die Inseln nicht, vergaß meine Vorsicht. Dies war ein Land fern von meinen verlorenen Kämpfen, und ich glaubte nicht, daß es mich verletzen konnte.
Auf dem gepflasterten Platz stand ein junges Mädchen, fünfzehn oder sechzehn, und umklammerte einen Korb. Drei Jungen umringten sie und riefen etwas, das ich nicht verstand. "Laßt mich in Ruhe!", rief das Mädchen, ein sauberer, altertümlicher Akzent, Oberschicht vielleicht, oder Zugereiste. Ich warf dem Anführer der Jungen einen finsteren Blick zu und erklärte ihm in Etayru, daß er sich zum Kuckuck scheren könne. Etayru klingt grimmig für Leute, die 'Nenadriu oder Elaqua gewöhnt sind. Die Abendsonne warf meinen Schatten lang vor mir auf die Straße. Die Jungen rannten.
Am nächsten Tag wanderte ich an der Küste entlang, stieg über Klippen und durch Buschwerk und lief über schwarze Strände. Ein Turm, eine alte Festung zur Beobachtung der See oder vielleicht zur Verteidigung gegen Piraten, überblickte die einsame Küste.
In einer der Buchten ragten auf eisernen, seetangbepelzten Beinen Ruinen aus dem Wasser. Ich schwamm hinüber, neugierig, erforschte Räume und Stege aus bröckelndem Gestein und nahezu durchgerostetem Metall, schlug mir die Knie auf und fand nur Muscheln und Seetang und kleine Krebse, die davonhuschten, wenn sie meine Schritte spürten, keine Schätze oder Geheimnisse, und ich begann, über das nachzudenken, was wir verloren hatten.
Am Abend wechselten die Tiden und die Flut rollte herein. Der Wind blies kalt dem Land zu, und die alten Anlage klagte wie der Geist einer toten Zeit. Ich nutzte die auflaufende Flut, um zurück an Land zu schwimmen. Der fast volle Mond stand schon am Himmel, die Kleine Schwester neben sich, als ich den Strand hinaufkam und entdeckte, daß eine Gruppe Halbstarker aus dem Dorf sich an meinem Klamotten und meinem Geld vergriffen. Nicht zweimal in einem halben Jahr, dachte ich ärgerlich. Meine Muskeln waren müde vom Schwimmen und mein 'Nenadriu immer noch lückenhaft, und ohne darüber nachzudenken, griff ich vorsichtig ins Netz, um einen Trick oder zwei bereit zu haben, ob ich nun verschwinden, sie verjagen, oder mich mit ihnen schlagen wollte. Hätte ich nachgedacht, ich hätte gewußt wie unwahrscheinlich es war, zweitausend Kilometer von Tayrear und zwei Jahre nach dem Ende des Krieges etwas Brauchbares aus dem Netz zu bekommen. Chière war zurückgekommen, aber gewiß hatte sie jetzt, im Frieden, besseres zu tun, als das Netz am Leben zu halten.
Doch statt des müden Tröpfelns, das ich halb erwartet hatte, statt des vertrauten, stetigen Flusses von Energie und Wissen, auf den ich gehofft hatte, traf mich die Netzenergie wie ein Frühlingsschauer in Imhaie, abrupt und kalt und bittersüß wie Heimweh. Licht flammte über den Strand, Schlagschatten der Felsbrocken, und die Gesichter der Jungen grünlich und blutlos wie die von Wasserleichen. Sie ließen alles fallen und rannten um das liebe Leben. Ich versuchte, mich aus dem Netz zu schnippen -- der einfachste Trick im Buch, und ich hatte das Buch geschrieben -- aber das Netz wollte mich nicht gehen lassen, es wickelte sich um mich als sei sein Name mehr als nur Metapher, lebendig und zäh wie alte Wurzeln, wollte etwas von mir in einer Sprache, die ich nicht verstand, bis ich schließlich, der Panik nicht fern, meine Hände in den Himmel streckte als wollte ich mich ergeben, und die Energie erdete, sie an mir herunter in den schwarzen Sand laufen ließ.
Erst viel später erfuhr ich, was passiert war. Und Jahrzehnte vergingen, bis ich es verstand. Damals erschien es nicht mehr als eine Erinnerung an die Warnungen, die wir als Kinder gehört hatten, in einer anderen Zeit, mit einem anderen Namen: "Spiel nicht in den Ruinen, Janizhe, sie sind gefährlich".
Ich befreite mich von den Ruinen des Netzes und sank in den Sand, der kalt geworden war vom Abendwind. Das Meer rauschte, esae, ohne-Zeit. Ich war erschöpft und fror und vor meinen Augen tanzten grünblaue Schemen. Der Mond stand im Zenit, als ich mich endlich aufrappelte, mich anzog und auf den Weg zurück zum Dorf machte.
*
Wären sie acht Mann hoch vor mir aus dem Gebüsch gesprungen, ich wäre entkommen. Aber es waren nur zwei, die auf der Straße vor dem Gasthaus auf mich zukamen, und sie sprachen mich an, mit ruhigen Stimmen und in einem Dialekt, von dem ich nur jedes zweite Wort verstand, also blieb ich stehen und versuchte zu verstehen, was sie von mir wollten. Dann rief jemand eine Warnung und ich wich nach vorne aus, schlug einem der Männer den Ellenbogen in den Magen, als hinter mir ein Gewehrkolben die Hauswand traf, wo eben noch mein Kopf gewesen war. Ich fliehe immer nach vorne.
Nicht schnell genug, dieses Mal, und vielleicht verwirrten mich die Schatten in meinem Kopf, und vielleicht machte die Erschöpfung mich langsam, aber vielleicht waren sie auch nur in der Überzahl und schneller, und besser bewaffnet. Ich wagte nicht, nach den Netzfäden zu greifen, und als einer der Männer ein Gewehr auf mich richtete und etwas rief, das selbst mein mangelhaftes 'Nenadriu als "Stehenbleiben oder ich schieße!" interpretieren konnte, tat ich das und hob die Hände. Ein Schlag traf mich in der Seite, und ich spürte die Rippen brechen, und die Erinnerung an Orsan rollte über mich, bitter wie das Meer, und tiefer, eine immense Frustration und Müdigkeit an der Welt, an meinem Leben, an den Menschen, an allem, was mich immer wieder in Idioten laufen ließ, die ihre Dummheit an mir auslassen wollten. Die Welt zeigte mir, wie unwichtig ich und all mein Stolz und meine Hoffnung ihr waren, und ich mußte lachen über meinen Hochmut, in schmerzhaften, bellenden Stößen, bis ich in den bitteren Wogen unterging.
*
Einer der größten Vorteile, die es mit sich bringt, eine fünfhundertfünfzig Jahre alte Saejie zu sein, ist es, daß man Verletzungen, die einen normalen Menschen umbringen würden, ohne bleibende Schäden überlebt. In manchen Situationen scheint das auch der größte Nachteil zu sein, und der Moment, in dem ich wieder zu mir kam, war eine davon. Mein Kopf fühlte sich an wie ein überreifer Kürbis, in dem eine Baßtrommel schlug. Jeder Atemzug war, als drehe jemand ein Messer in meiner Seite, und mir war fürchterlich übel. Der Gedanke daran, wie es sich anfühlen würde, wenn sich mir jetzt der Magen umdrehte versetzte mich in Panik, und ich gab den Versuch auf, die Augen zu öffnen oder mich zu bewegen. Statt dessen konzentrierte ich mich darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen. Und dann bemerkte ich den Gestank.
Der Gestank von Schlachtfeldern und Leichenhallen, von engen Räumen, wo die Vergessenen unbemerkt gestorben waren und nicht vermißt worden, bis schließlich die Nachbarn, empört über den Geruch, die Hausmeisterin holten. Die die Tür öffnete und sich mit einem Blick dahinter wünschte, lieber Tennislehrerin geworden zu sein... der gleiche Gestank, aber jetzt war er näher, und stärker. Ich hörte Fliegen summen.
Ich schickte meine Gedanken weit fort von mir, nach Norden, zu der eisigen Küste Kandriens in klaren Winternächten, wo der Wind so kalt ist wie die Sterne. Ich machte mich ganz und gar zu mir selber, verstand, daß mein Herz schlug, daß mein Blut da floß, wo es hingehörte (drinnen), daß die Luft, die ich atmete, nirgendwo hinging, wo sie nicht sollte, daß alle Teile von mir anwesend waren. Dann erst hob ich die Hand und rieb mir vorsichtig das getrocknete Blut aus dem rechten Auge (mit dem linken wollte ich mein Glück noch nicht versuchen) und, in meinem Kopf nur Nacht und Wind und Sterne, lugte ich durch den Spalt, der sich auftat.
Ich war von Toten umringt. Ich versuchte, sie zu zählen und bei zwanzig gab ich auf, weil ich nicht mehr sicher war, und weil selbst der Eiswind in meinen Gedanken mich nicht vor ihnen schützen konnte, schwarze, hohläugige Mumien und grau-gelbe Knochen, und andere, die erst seit Wochen tot zu sein schienen. Das Summen der Fliegen war ohrenbetäubend. Im grauen Morgenlicht, das durch ein Loch in der Decke sickerte, sah ich, daß der Raum rund war, die Wände grauer Beton, gefleckt von Feuchtigkeit und Schimmel: Die unterste Ebene der alten Festung. In einer Wand war eine schwere Stahltür, frei von Rost und stark genug, um Granatbeschuß zu widerstehen, überzogen mit einer Patina, in der Steine und Fingernägel und Verzweiflung schwache Kratzer hinterlassen hatten, durch die das blanke Metall schien. Wie viele hatten noch gelebt hier unten? fragte ich mich. Aber diese Tür war kein Weg nach draußen. Der einzige Weg war das Loch in der Decke, hoffnungslose drei Meter über mir.
Hatte der Postschiffkapitän gewußt, daß dies ein Räuberloch war, eine Pirateninsel? Ich wußte es nicht, und es spielte keine Rolle, ob ich mich verraten fühlte. Das einzige, was eine Rolle spielte, war, zu überleben. An einer Stelle sickerte Wasser durch einen Riß in der Betonwand. Ich opferte mein halbes letztes Hemd, um das Wasser aufzusaugen, bis ich ein paar Tropfen herauswringen konnte. Das Wasser schmeckte nach Beton und Moder. Als ich keine Kraft mehr hatte, weiterzumachen, suchte ich mir einen Platz, den keiner der Toten beanspruchte, und ließ meinen Geist auf den sattgrünen Wiesen des Nordens wandern und durch die gepflasterten Straßen Cayts, der Regenstadt, während mein Körper stur sein Bestes tat um sich zu regenerieren.
In der Nacht wachte ich auf, weil ich glaubte, Stimmen gehört zu haben. Der Raum schien davon widerzuhallen. Die Toten flüsterten von Rache. Ich kauerte mich gegen die Wand und wartete auf den Morgen.
Am nächsten Tag kam der Hunger. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich möglichst abstrakt darüber nachdachte, wie lange das, was hier vorging, schon vor sich ging, wie viele davon wußten, und aus welchen merkwürdigen Motiven diese Räuber die Leichen ihrer Opfer in einer alten Festung versteckten, statt sie ins Meer zu werfen. Vielleicht fürchteten sie, daß das Meer die Beweise ihrer Untaten an die Küsten ihrer Nachbarn spülen würde, oder sie hatten einst damit angefangen, Gefangene zu nehmen und Lösegeld zu verlangen, bis sie feststellten, daß der Preis für ein Leben in diesen Zeiten zu gering war, und Lösegeldübergaben schwer zu bewerkstelligen? Dann dachte ich über das Entkommen nach. Aber mit meinen kaputten Rippen und meinem nahezu unbeweglichen rechten Arm hätte ich kaum einen Meter überwinden können, geschweige denn drei, und selbst wenn das Netz so freundlich und kooperativ gewesen wäre wie Talo und Narani es je gewebt hatten, wäre mein Kopf noch zu wirr gewesen, um es zu greifen.
Die zweite Nacht kam und ging. Ich hörte die Wände schreien, und das aus dem Spalt sickernde Wasser verwandelte sich in der Dunkelheit in Blut. Die Züge eines der Toten waren noch erkennbar, ein junger Mann aus Apaidámeë oder vielleicht Xirde. Er sprach über die See, über Blut und Rache. Die Nacht dauerte ewig, länger als die Mittwinternacht in Sohiva, und nur für kurze Zeit wanderte ein müder Flecken Mondlicht über den Boden. Ich war versucht, aufzustehen und den Flecken einzufangen, um in das Gesicht des Mondes hinaufzusehen, aber ich war zu müde und wollte die Toten nicht auf mich aufmerksam machen.
Am dritten Tag konnte ich meinen rechten Arm wieder ein bißchen bewegen und aus beiden Augen sehen, wenn auch verschwommen. Ich fragte mich, ob es hier Ratten gab und ob ich vielleicht eine fangen konnte. Ich fragte mich, wie lange es dauerte, bis man vor Hunger wahnsinnig wurde, und entschied, daß das keine Rolle spielte. Nur die Nächte beunruhigten mich. Ich hoffte, daß die Toten nicht auf die Idee kämen, mich für ihre Misere verantwortlich zu machen. Dann fragte ich mich, ob der Gedanke verrückt war, und ehe mich die Frage verrückt machen konnte, schickte ich mein Denken zurück nach Norden, nach Cayt. Chière war in Cayt. Chière war wiedergekommen. Wir kommen immer wieder, hatte Elorie gesagt.
Draußen fiel die Dämmerung, und ich wünschte, die Sonne festhalten zu können, als ich oben eine Bewegung hörte, und dann Stimmen. Männerstimmen, einer sagte etwas von "Verschwendung", und ein anderer wollte schnell fort, ehe die Nacht kam. Etwas bewegte sich vor dem Loch und ein Körper flog herunter, landete auf dem jungen Seefahrer aus Apaidámeë und rutschte ein wenig auf mich zu. Ich rappelte mich auf, so gut es mir möglich war, ich hoffte, ich betete zu Kadanésta, dem Schutzpatron der hoffnungslosen Fälle, daß der Neue noch nicht ganz tot war, noch gerettet werden konnte, denn zu zweit, so weit hatten mich meine Überlegungen schon gebracht, würde es möglich sein, zu entkommen. Oder vielleicht nicht: Oben klappte eine Tür und ein Riegel wurde vorgeschoben.
Es war eine junge Frau, ein Mädchen, und sie lebte noch, ein schwacher, flatternder Puls an ihrem Hals. Sie war schlimmer zugerichtet als ich je gewesen war, aber sie mußte einmal hübsch gewesen sein. Ich glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben. Und als das schwindende Licht den Keller der Toten in bleigrauen Schatten versinken ließ, wußte ich, wo. Sie war das Mädchen auf dem Marktplatz gewesen, und sie starb, ehe der Mond aufging.
Meine Freunde sagen, daß ich nie zornig werde, daß Wut nur eine Pose ist, in die ich mich werfe, wenn es mir angemessen erscheint. Sie spotten, daß ich nie verzeihe, aber nichts übelnehme, während Leute, die nicht genug Format haben, um meine Feinde zu sein, mir vorwerfen, es fehle mir an Eifer, an Leidenschaft, an gerechtem Zorn. Und es ist wahr, daß ich nie ein Feuer im Schrein der Jorikártis entzündet habe und nie Blutfehde geschworen, und es ist wahr, daß ich sehr selten zornig werde. Aber jetzt fiel mich Jorikártis' flammenfarbener Tiger an, die Stimmen der Toten hallten in meinen Ohren, und ich verfluchte diesen Ort, ich verfluchte das Dorf und die Insel und alle ihre Bewohner, all das herzlose und grausame und gierige Pack, das nicht nur dahergelaufene Fremde zu ihren Opfern machte -- das konnte ich noch verstehen -- sondern auch ihre eigenen Töchter.
Der Fluch einer Hexe, sagte man heute, ruft Geister herbei, Dämonen, die ihre Worte hören, die ihre Rache ausführen, wenn sie ihren Preis zahlt. Damals wußten wir nichts davon. Meine Flüche erfüllten sich nicht öfter als die anderer Leute. Aber an diesem Abend, als das Mondlicht in den Keller sickerte, hörte ich, wie die Toten mir antworteten.
Es war die Nacht des Vollmonds, die Nacht, wo im zweitausend Kilometer entfernten Cayt Chière und Monika und Lagan etwas Unmögliches versuchten, um die Netzenergie, die chaotisch geworden war in den Jahren der Vernachlässigung und gefährlich für jeden, der versuchte, mit ihr zu arbeiten, in ein neues Muster zu zwingen, in eine neue Realität. Ich glaubte nicht an Götter und Geister, ich erinnere mich an die Zeit, wo unsere Mythen noch nicht einmal Legenden waren, sondern lediglich Anekdoten, wo Jorikártis eine Vigilantin war und Kadanésta ein erfolgreicher Anwalt, aber in dieser Nacht änderte sich unsere Welt für immer, und was ich glaubte oder wußte spielte keine Rolle mehr.
Jorikártis Tiger verschwand wie Rauch im Wind, nachdem er mit mir fertig war. Die Nacht umgab alle Dinge mit klaren, silbernen Linien. Die Toten schwiegen, zufrieden. Das Mädchen schlug die Augen auf, und einen Moment lang spürte ich das Echo eines fremden, mächtigen, neu geborenen Geistes, Jorikártis' Atem auf uns. Ich sah die Form des Geistes, sein Leben im Tode und seinen Hunger nach Blut, und ich gab ihm einen Namen aus den Legenden, ohne darüber nachzudenken, und dann begriff ich, daß ich in größeren Schwierigkeiten war als zuvor. Denn jetzt war ich zusammen mit einem jungen Vampir in einem geschlossenen Raum. Und der Vampir würde hungrig sein, wenn sie erwachte.
Als Kind hatte ich Alpträume dieser Art, in denen ich mit einer Bestie mit glühenden Augen in einem Raum gefangen war und wußte, daß die Bestie jetzt noch satt war -- doch sie würde hungrig werden. Die Tür zu öffnen und hinauszugehen hieße, die Bestie auf die Welt loszulassen, und das durfte nicht geschehen, es durfte nicht meine Schuld sein, daß ein solches Wesen frei war. So war ich, in meinen Alpträumen, geblieben, unfähig, der Furcht Herr zu werden und wissend, daß Furcht die Bestie zum Angriff reizt, bis ich erwachte, schweißgebadet und mit hämmerndem Herzen, zu voller Schrecken, um zu schreien, und wagte nicht mehr, die Augen zu schließen, bis der Morgen kam.
Aber dieses war wirklich. Und ich war keine fünfzehn. Ich war fünfhundertfünfzig, und mein Vertrauen in meine eigene Stärke sowie in die Fähigkeit der Welt, mit dem einen oder anderen Ungeheuer zu leben, hatte wesentlich zugenommen. Ich würde mich nicht fürchten, entschied ich. Denn was immer hier geschah, war etwas Neues: Unmöglich, undenkbar, unerklärlich, real.
Das Mädchen sah sich verwirrt um und setzte sich auf. Die Bewegung wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise kein bißchen menschlich, aber ihre Stimme klang um so menschlicher, als sie voller Verwunderung sagte, "Es tut nicht mehr weh." Ein sauberer, altertümlicher Akzent, und jetzt erkannte ich auch die Stimme. Sie hatte mich vor den Leuten gewarnt, die mich überfallen hatten -- wenn auch zu spät.
"Nein", sagte ich, nur um etwas zu sagen. Wenn man tot war, hatte man wohl ein Anrecht darauf, daß nichts mehr weh tat.
Sie sah mich geistesabwesend an, noch verloren in was immer in ihrem Kopf vorging. "Ich spüre gar nichts." Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie Schlaf oder Unentschlossenheit vertreiben und richtete dann ihren Blick auf mich. Ihre Pupillen füllten fast ihre ganze Iris, und ich erkannte, daß sie Beute sah. Ich überschlug schnell meine Chancen, wenn ich sie jetzt angriff, und kam zu dem Ergebnis, daß ich einen Kampf mit etwas, das ich nicht verstand, wahrscheinlich verlieren würde.
"Was... wer bist du?" fragte sie zögernd.
Ich fragte mich, wie menschlich ich noch aussah. "Tanien", sagte ich. Meine Stimme klang, als sei ich selber ein Geist.
Die Vampirin glitt auf mich zu wie ein Bild in einem bewegten Spiegel. Ein Fleck von Mondlicht streifte ihre Züge. Ihr Gesicht war immer noch voller Schmutz, und getrocknetem Blut und hellen Streifen von Tränen, aber die Verletzungen waren verschwunden, und unter dem Dreck war ihre Haut glatt und makellos. Ihre Zähne waren spitz und weiß. Ich schauderte unwillkürlich, sah ihre Augen mir folgen wie die einer lauernden Katze, und brachte meine Kindheitsalpträume schleunigst unter Kontrolle.
"Was ist geschehen?" fragte sie. "Ich dachte, ich wäre tot... ich wollte sterben... aber es scheint so gleichgültig, jetzt."
Wie sag ich's meinem Kinde? Sinnlos, um den heißen Brei herumzureden. "Du warst tot", sagte ich.
"Ich ... Ja. Ich weiß. Ich..." Sie wollte weinen, aber sie konnte es nicht. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und wirkte so verzweifelt, daß ich ihr Kakao und Kekse angeboten hätte, hätte ich welche gehabt.
Schließlich sah sie auf und sagte mit einer erzwungenen Ruhe, die meiner sehr ähnlich war: "Ich bin gestorben. Ich bin tot. Ich atme nicht. Mein Herz schlägt nicht. Trotzdem denke ich und spreche. Ich fühle nichts. Aber ich spüre Hunger, und Kälte, Tanien. Und ich spüre dein Leben, ich höre dein Herz schlagen, und ich rieche dein Blut. Und ich will es, ich brauche es, mehr als ich jemals zuvor etwas gebraucht habe. Wir haben Legenden über solche Wesen, über Tote, die umhergehen und das Blut der Lebenden trinken, Wiedergänger. Das ist es, was ich bin. Ich habe nicht mehr an die Legenden geglaubt, seit ich zehn Jahre alt war... Du solltest dich fürchten, du solltest zittern vor Furcht..." Ihre Ruhe brach wie ihre Stimme und sie wandte sich ab. "Mutter des Lichts, hilf mir!"
Die Mutter des Lichts antwortete nicht, aber die Alte Nacht war mit mir: Was immer mit dem Mädchen passiert war, ihre menschlichen Gedanken und Skrupel hatte sie nicht verloren.
"Warum fürchtest du dich nicht?" fragte sie, als sie wieder aufsah und mich nicht schlotternd in einer Ecke wiederfand. "Ich würde -- ich hätte mich zu Tode gefürchtet, wenn ich einem Wiedergänger begegnet wäre. Ich hatte Alpträume davon."
Ich auch, dachte ich. Und du hattest, anders als ich, nicht den Trost, daß es keine Wiedergänger gibt. "Ich bin sehr alt", sagte ich. "Und ich habe Dinge gesehen, die viel furchterregender waren als du." Ich hoffte, daß sie nicht stolz war und sich berufen fühlte, zu beweisen, wie furchterregend sie sein konnte, aber es schien mir sinnvoll, das Ausmaß an Drama in der Situation ein wenig zu reduzieren.
Sie musterte meine ausgesprochen abgerissene Gestalt. "Du siehst nicht alt aus."
Ich schnaubte. "Wenn ich so alt aussehen würde, wie ich bin, sähe ich älter aus als der Knochenmann da drüben." Ich winkte vage in die Richtung des ausgeblichensten Gerippes. "Ich bin..." Saejie. Zeitlos. Was war das 'Nenadriu Wort dafür? Ich wußte es nicht. "Ich bin eine Hexe", sagte ich statt dessen. Das 'Nenadriu-Wort für "Hexe" hieß auch "Wahrsagerin".
"Was?" Sie sah mich hoffnungsvoll an. "Weißt du Rat?"
Ich schüttelte den Kopf. ";Noch nicht." Ich arbeite dran, dachte ich, und hoffte, daß ich Recht hatte.
Sie sackte zusammen und kämpfte um ihre Fassung. "Ich will so nicht sein! Ich will nicht töten -- nicht dich, jedenfalls, und, und nicht so! Aber ich bin hungrig und es wird immer schlimmer. Und ich, ich halte das nicht mehr lange aus."
"Mußt du töten?", fragte ich.
"Ich brauche Blut!", sagte sie verzweifelt.
"Ja. Aber ein Mensch hat fünf bis sechs Liter Blut. Das ist eine ganze Menge. Ein gesunder Mensch kann einen halben Liter Blut verlieren ohne Schaden zu nehmen. Wieviel brauchst du?"
"Ich weiß es nicht..."
"Denk nach!" sagte ich scharf, dachte an das Netz, das manchmal Informationen gehabt zu haben schien, die niemand hineingefüttert hatte, dachte an die flüsternden Toten, dachte an Jorikártis' Atem. Dachte an Gelegenheiten. Kadanésta lachte gewiß über mich, hier war ich mit einer zweiten lebenden, nein, aktiven Person, mit der Möglichkeit, zu entkommen, aber erst mußte ich, schien es, meiner potentiellen Helferin entkommen... aber ohne sie käme ich hier nie heraus, ein zweites Wunder wäre viel zu viel verlangt. Wenn jeder Weg bis auf einen ins sichere Verderben führt, nimmt man den einen, wie gefährlich er auch sein mag.
Als sie wieder sprach, hatte ich meinen Entschluß gefaßt.
"Ich kann es", sagte sie. "Ich glaube nicht, daß ich viel brauche. Ein paar Schlucke nur. Aber es wird nicht einfach sein."
Ich hatte nicht damit gerechnet, daß es einfach sein würde, aber ihre nächsten Worte überraschten mich.
"Nicht einfach für dich, meine ich. Ich glaube... ich sehe mich im Bild deiner Gedanken, und wenn du nicht schon wüßtest, was ich bin, ich könnte dir eine Illusion vorspiegeln, daß ich etwas anderes wäre, so daß du dich nicht fürchtest... aber ich kann nicht nehmen, was du bereits weißt. Du kannst nichts anderes in mir sehen als, als ein Monster, und du wirst du dich fürchten, und ich..." Sie schüttelte den Kopf. "Bitte", sagte sie. "Ich will das nicht tun. Du bist eine Hexe. Töte... nein, zerstöre, vernichte mich. Ich will diese Existenz nicht. Es tut mir leid."
"Kommt überhaupt nicht in Frage", sagte ich.
Sie sah nicht einmal auf.
"Wie heißt du?" fragte ich.
"Die Toten haben keinen Namen."
"Alles, was spricht, sollte einen Namen haben. Sonst muß man es 'hey, du da' nennen, und das wird verwirrend, wenn man mehr als einen von der Sorte hat."
Der Laut, den sie ausstieß, hätte in besseren Zeiten ein Lachen sein können. "Mein Name ist gestorben. Ich kann ihn nicht mehr tragen."
"Dann gib' dir einen anderen."
"So einfach?" fragte sie.
"Einfach so", sagte ich, wie immer machtlos gegenüber der Versuchung, dumme Bemerkungen zu machen.
Sie schenkte meiner Bemerkung mehr Respekt, als diese verdiente, indem sie darüber nachdachte. Dann sagte sie, "Ich nenne mich Malenka."
Malenka. Die Kleine Schwester des Mondes. Ich nickte zufrieden. "Malenka. Ich habe überlegt, was wir tun können. Wir sollten zusehen, daß wir hier herauskommen. Kannst du die Tür da aufbrechen? Oder dich in--" (in was verwandelten sich Vampire in den Gruselgeschichten noch mal? Und gab es das auf unserer Welt?) "--in eine Fledermaus verwandeln und durch das Loch da flattern?"
Sie warf einen Blick auf die Stahltür, dann auf das Loch in der Decke. "Ich habe keine Ahnung, wie man sich in eine Fledermaus verwandelt. Ich könnte vielleicht durch das Loch kommen, aber dahinter ist noch eine Tür und ich bin zu schwach dafür... zu hungrig."
Schade. Es hätte alles so viel einfacher gemacht. Ich dachte über das nach, was ich als nächstes sagen wollte. Das Problem war, wenn Malenka mich aus diesem Keller befreien konnte, konnte sie sich leichter ohne mich befreien. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie der Geist sich angefühlt hatte. Ich fragte mich, was die Toten von den Lebenden wollten. Rache. Aber für Rache brauchte sie mich nicht. Und Rache ist ein Gericht, das keinen satt macht. Malenka wollte noch etwas anderes: Sie wollte nicht sein, was sie geworden war.
"Das habe ich gefürchtet. Zweitens, Malenka. Du hast gesagt, daß du diese Existenz nicht willst. War dir das ernst?"
Sie konnte kaum noch blasser werden, aber in ihrem Gesicht malte sich sehr menschliches Erschrecken. "Kannst du ...mich wieder zu dem machen, was ich war?"
"Du warst tot", sagte ich. "Ich kann dich nicht wieder lebendig machen."
"Ich weiß", sagte sie. "Aber kannst du mich töten?"
"Warum willst du das?" fragte ich.
"Weil ich ein Ungeheuer bin, eine Ausgeburt der Finsternis! Mich darf es nach den Gesetzen der Welt und der Menschen nicht geben! Ich muß doch... wenn ich mich nicht ganz dem Bösen ergeben will, muß ich doch ein Ende meiner Existenz anstreben!"
"Willst du das?" fragte ich wieder. Ich mußte verstehen, wie sie dachte. Wer sie war. Wer sie glaubte, daß sie war.
"Nein... aber ich muß es doch! Sonst töte ich dich und, und..."
"Malenka, 'böse' ist nicht, was du bist, sondern was du tust. Oder nicht tust. Und, 'Ausgeburt der Finsternis'? Wir sind alle Kinder von Mutter Nacht."
"Der Priester sagt, daß nur der, der dem Pfad des Lichts folgt, seine Belohnung erhält..."
Das war die verquasteste Theologie, die ich je gehört hatte. "Und was für eine Belohnung", sagte ich, "erhalten die, Menschen totschlagen und ausrauben? Welche Erkenntnis gewinnen sie für die Welt?"
Sie hielt inne. In ihren Augen flackerten Tigerflammen.
"Malenka", sagte ich. "Ich kann dich nicht töten. Aber wenn du es willst, werde ich einen Weg finden. Und ich kann dir etwas anderes geben. Ein paar Schlucke nur."
Sie fletschte die Zähne, leckte sich die Lippen und bewegte sich dennoch nicht. "Es wird nicht gehen. Du siehst mich. Du wirst dich fürchten."
Fürchtete ich mich? Ich wußte es selber nicht mehr. "Ich sehe dich, ja. Und ich sehe nichts, was mir Angst macht."
"Ich kann dir nichts versprechen."
"Ich erwarte nichts."
"Du weißt nicht, was du tust!"
Der Versuch, zu lachen, trieb mir Tränen in die Augen. "Welche Rolle spielt das? Ich weiß, daß ich aus dieser Gruft heraus will. Und von all den Toten hier bist du die einzige, die mir helfen kann. Was brauche ich mehr zu wissen als das?"
"Warum vertraust du mir?"
Ich tat es nicht. Ich fand keinen Optimismus mehr in mir, und keinen hellen Gedanken. Selbst der Mond hatte uns verlassen und in dem diffusen indirekten Licht schienen nur noch Malenkas Augen und Zähne zu schimmern. Mutter Nacht war groß und still und allgegenwärtig. Vielleicht gab es wirklich nichts zu fürchten. "Warum nicht?" fragte ich. "Erstens, mir nützt es, wenn du existierst. Und dir nützt es, wenn ich lebe. Denn die Welt ist groß und die Nacht ist lang, und ich weiß, wie es ist, seine Heimat in der Welt der Menschen verloren zu haben. Ich werde da sein, in hundert Jahren oder in tausend, und mich nicht fürchten. Zweitens wirst du nicht weniger hungrig werden, und mir wird es nicht besser gehen, wenn wir länger hier unten sitzen. Und drittens..." Ich gab der automatischen Sympathie nach, die ich für jeden fühle, der Mutter Nachts Humor zum Opfer fällt, und meiner Freude am Unbekannten, "Drittens will ich, daß du existierst. Denn wir leben zu lange schon in Ruinen, und du bist etwas Neues."
Trotz meiner Rede schloß ich die Augen vor Malenkas Blick. "Warn' mich bitte vor", sagte ich.
Eine kalte Hand berührte meinen Hals und jagte Schauder über meinen Rücken. "Was ist das?" fragte sie. "Diese Ader?"
Ich spürte das Pochen unter ihren Fingern und zwang meinen Verstand, sich mit praktischen Dingen zu befassen. "Halsschlagader", sagte ich. "Die sicherste Methode, einen Menschen innerhalb von Sekunden zu töten. Außerdem gibt es eine Riesensauerei." Erinnere dich an Anatomiestunden und Erste-Hilfe-Kurse, befahl ich mir. Bei Pferden entnahm man Blut aus der Drosselvene. Bei Menschen aus der Armvene. In diesem Moment hätte ich viel darum gegeben, zu wissen, warum das so war. Mein rechter Arm war immer noch außer Gefecht, den linken jetzt auch noch zu riskieren erschien mir etwa so ungünstig wie mit großen Blutgefäßen am Hals herumzuexperimentieren. "Warte", sagte ich. Mein rechtes Handgelenk hatte immerhin einen ordentlichen Puls. Ich legte meine Hand über ihre und führte sie den rechten Arm hinunter bis zur Ellbogenbeuge, und zur Innenseite des Unterarms, der insgesamt am wenigsten abbekommen hatte. Ich wünschte, ich hätte etwas sehen können. "Hier ist eine große Vene dicht unter der Haut", sagte ich.
Ihr Finger folgte einer Linie, die ich nicht sehen konnte, die sich aber richtig anfühlte. Mein Arm reagierte auf die Berührung mit der Mitteilung, daß es ihm nicht gut ging und er in Ruhe gelassen werden wollte, bitteschön. Ich biß unwillkürlich die Zähne zusammen. Das würde ziemlich wehtun. Aber wenn ich hier herauswollte, wenn all das wahr war, was ich Malenka gesagt hatte, gab es keine andere Möglichkeit.
Ich merkte, daß sie aufsah, und fragte mich, was sie gesehen oder gespürt hatte, und dann, so plötzlich wie ein Funke überspringt und ein Buschfeuer entfacht, fiel ihr Hunger mich an wie eine hohe, kalte Welle, die mich von den Füßen riß und in das schwarze Wasser hinauszog. Ich atmete langsam und gründlich aus, entspannte alle Muskeln, die ich konnte, und überließ mich der Strömung. Schließlich hatte ich es nicht anders gewollt, oder?
Sie muß an meinem Arm gezogen haben, denn der Schmerz in Schulter und Ellenbogen ließ das Schwarz um mich herum zu flackerndem Grau werden.
Ich spürte die Berührung, kühl und feucht, suchend, dann die Spitzen scharfer Zähne. Etwas, das wie ein Atemzug klang oder wie ein Schluchzer, ich wußte nicht ob meiner oder Malenkas. Ich wünschte, sie würde endlich tun, was sie tun wollte, was ich ihr erlaubt hatte, und kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht bohrten sich die Zähne durch meine Haut und weiter, und vielleicht schrie ich, aber ich war so weit von allem fort außer von dem Schmerz, der nicht aufhörte, das Suchen von Zähnen, in meinem Arm, alte Nacht, wie schwer konnte es denn sein, eine Ader zu finden? Dann ein Ende der Bewegung, und warme und kalte Nässe und ein saugendes und schmatzendes Geräusch, und ich blieb an dem fernen, stillen Ort wo ich in meinen Gedanken war, hörte mein eigenes krampfhaftes, schluchzendes Ausatmen wie das einer Fremden, der ich nicht helfen würde.
Der Schmerz ließ nach, und mit ihm mein Orientierungssinn, bis ich nicht mehr wußte wo oben war und wo unten und nichts mehr existierte bis auf ein seltsames, unvertrautes, ziehendes Gefühl in meinen Adern, und das vertrautere Pochen meines Herzens, lauter jetzt, schwer und schnell wie in einem Alptraum.
Jorikártis, dachte ich, du bist meinetwegen gekommen, du hast mich überlistet, und verleitet von den Augen eines Mädchens und einem Versprechen von Rache habe ich mich in deine Hände gegeben. Aber ich werde dir deine Beute nicht verweigern, für Tayrear und Kandrien und Lerantar, für all die Toten, für das Blut, das ich vergossen habe, für meinen jämmerlichen verlorenen Krieg, ein Kontinent in Trümmern und unsere Geschichte in Scherben: Ich habe versagt, fünfhundert Jahre lang. Ich wollte weinen und mußte lachen. Jorikártis, wenn dir je ein Opfer zustand, dann dieses, ich werde mich nicht mit dir streiten.
Ich meinte, Malenka etwas sagen zu hören und sagte, "Es ist in Ordnung, wirklich", Dann faltete ich wie eine gute Netzfrau die Fäden sorgfältig von mir weg und ineinander zurück, und erlaubte mir für einen Moment, zu wissen, wo ich war, und zu bemerken, daß mir nichts mehr wehtat, und das, dachte ich, ehe ich mich ohne großes Bedauern in eine andere Dunkelheit gleiten ließ, war ja schon mal was.
Weiter in Teil 2